Hamburg. Eltern wollen gesunde Ernährung, Kinder lieber Schokolade. Schadet Nachgiebigkeit der Gesundheit des Kindes?
„Kannst du vergessen.“ Mit verschränkten Armen sitzt unser Sohn am Küchentisch. Das Stück Paprika, das wir ihm zum Probieren auf den Teller gelegt haben, wird von ihm mit finsteren Blicken gemustert. „Nun probier doch mal, vielleicht magst du’s ja“, wagen wir noch einen Versuch. Ein neuerlicher grimmiger Blick. „Wenn ich nein sage, dann meine ich auch nein.“ Damit ist das Thema für ihn erledigt. Die Paprika wandert an den Tellerrand, in einem unbemerkten Moment wird sie vom Kind darüber hinaus geschubst, zur Sicherheit.
Wir seufzen, widmen uns unserer eigenen Paprika und bleiben zurück mit dem Gefühl, dass wir uns dieses Gespräch genausogut hätten sparen können – wie so viele andere zuvor. Bisher konnten wir unseren Sohn weder mit Schimpfen oder Drohen noch Schmeicheln oder Locken dazu bringen, Sachen zu essen, die er nicht wollte. Das nervt. Auch wenn in all der Genervtheit ein Hauch stiller Bewunderung für die radikale Standhaftigkeit des Sprösslings mitschwingt: Er ist der Gewinner.
Aber schaden wir durch unsere Nachgiebigkeit der Gesundheit unseres Kindes? Sollten wir stärker darauf beharren, dass er Obst und Gemüse isst? Oder gibt sich dieses pingelige Stochern im Essen irgendwann von allein? Fragen wie diese treiben nicht nur uns um, sondern auch viele befreundete Eltern kleiner Kinder. Neben Schlafen ist Essen wohl das zweite Dauerthema, das Eltern vor allem in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder immer wieder beschäftigt.
Kein Grund zur Sorge, sagt Prof. Mathilde Kersting vom Forschungsinstitut für Kinderernährung in Dortmund: „Die meisten Kinder mögen Gemüse nicht gerne, das ist ganz normal.“ Für das ausgeprägte wählerische Verhalten der Kinder gibt es sogar einen Namen: Food Neophobie – die Angst vor neuen Nahrungsmitteln. „Am stärksten ist dieses Verhalten zwischen zwei und vier Jahren“, sagt Kersting. „Das legt sich später wieder.“
Auch Ulrich Fegeler, Sprecher des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte, rät zur Geduld. Er kennt die Problematik aus seiner eigenen Praxis. Sehr oft kämen Eltern zu ihm, die quasi den Hungertod ihrer Kinder fürchteten. Isst mein Kind genug?, sei eine Frage, die Eltern schon immer umgetrieben habe, quasi eine „Ursorge“.
Fegeler diagnostiziert vielmehr ein „Luxusproblem“ der heutigen Zeit. Bei der Vielzahl von Ernährungsratgebern, Diät-Vorschlägen und dem weit verbreiteten Wissen über die Grundlagen der Ernährung sei es besonders schwer, sich nicht verrückt zu machen. „Viele Eltern sind sehr verkopft, sie lesen viel und sind dann von einer Unzahl von Sorgen geplagt.“ Fegeler empfiehlt mehr Gelassenheit: „Die Eltern sollten versuchen, das entspannt zu sehen. Hierzulande ist es schwierig, ein Kind unterzuernähren.“
Vielleicht hilft der Gedanke, dass die Kinder mit ihrer Mäkeligkeit nur ihrem evolutionärem Erbe folgen: Viele Gemüsesorten haben einen leicht bitteren Geschmack. Und „bitter“ bedeutet in der Natur oft „giftig“. Süßes hingegen ist nie giftig. Wen wundert es da noch, dass Schokolade, Gummibärchen und Honigtoast im Vorteil sind?
Und doch – es gibt sie, diese Kinder, die lustvoll alles essen, was die Eltern ihnen hinstellen. Wie haben die das gemacht? „Wir wissen relativ wenig darüber, ob man die Geschmackspräferenzen seiner Kinder gezielt beeinflussen kann“, sagt Mathilde Kersting. Es gebe einige Studien, nach denen eine frühe Variation der Beikost die Neugier von Kleinkindern auf neue Lebensmittel erhöhen könne. „Aber wie lange das anhält, das wissen wir nicht.“
Einer neueren Studie zufolge liegt der Schlüssel zur ausgewogenen kindlichen Ernährung vielleicht in der Belohnung, gepaart mit stetiger Wiederholung und der Vorbildrolle der Eltern: Dieses 3-R-Modell – Repetition (Wiederholung), Role Modelling (Vorbildrolle) und Rewards (Belohnung) – haben Wissenschaftlerinnen um Claire Farrow von der britischen Aston Universität in Birmingham experimentell getestet. Sie hatten dazu insgesamt 115 etwa zwei- bis viereinhalbjährige Kinder samt ihren Eltern in verschiedene Gruppen eingeteilt.
Sie baten die Eltern, ihren Kindern zwei Wochen lang täglich ein ungeliebtes Gemüse anzubieten. In der ersten Versuchsgruppe geschah weiter nichts. In der zweiten Gruppe sollten die Eltern das Gemüse selber essen und positiv bewerten. In der dritten Gruppe versprachen die Eltern ihren Kindern eine Belohnung in Form eines kleinen Stickers, wenn sie das angebotene Gemüse probierten. Die Eltern der vierten Gruppe kombinierten nun alle Ansätze: Sie boten das Gemüse täglich an, aßen es selbst, priesen den Geschmack und versprachen eine Belohnung.
Und siehe da: Nach 14 Tagen aßen vor allem die Kinder der Kombi-Gruppe im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich mehr Gemüse. Sie bewerteten seinen Geschmack auch besser. Wiederholung, Vorbildfunktion und Belohnung hatten also tatsächlich den Ruf der zuvor ungeliebten Nahrung verbessert. Auch die Kombination von Belohnung und Wiederholung zeigte deutliche Veränderung des Gemüsekonsums. Das Vorbild der Eltern oder das wiederholte Anbieten allein erbrachte hingegen keine deutliche Verbesserung des Essverhaltens.
„Eltern brauchen wissenschaftlich fundierte Ratschläge, wie sie ihre Kinder ermutigen können, neues, ungeliebtes Gemüse und Obst zu probieren und allmählich schätzen zu lernen“, sagt Studienleiterin Claire Farrow. Auch hier schränken die Wissenschaftler ein, dass unklar sei, wie lange der in der Studie gezeigte Effekt anhalte.
Und überhaupt – soll man Kinder wirklich mit einer Belohnung für ein eigentlich normales Verhalten locken? Anstelle von Sachmitteln sollte man Kinder vielleicht eher sprachlich belohnen, also loben, sagt Mathilde Kersting. Sie ist generell skeptisch, ob der „Zirkus ums Essen“ angebracht ist. „Essen und gemeinsame Mahlzeiten sind etwas Schönes, das sollte man nicht vergessen. Sonst werden am Ende noch Eltern und Kinder neurotisch.“
Es sei gar nicht nötig, dass die Kinder möglichst viele verschiedene Obst- und Gemüsesorten essen. Einige wenige reichten aus. „Ich kenne kein Kind, das ausschließlich Nudeln isst“, sagte Kinderarzt Fegeler. Irgendeine Obst- oder Gemüsesorte schmecke den meisten Kindern. Im Notfall seien Säfte ein Weg, Kinder mit Vitaminen zu versorgen. „Oder Smoothies, die kann man auch gut zu Hause selber machen. Das gefällt vielen Kindern gut.“
Kinder, die in einem normal ernährten Umfeld aufwachsen, eignen sich ein gesundes Essverhalten an, auch wenn sie viele vermeintlich gesunde Dinge selbst erst einmal nicht essen, ist Fegeler überzeugt. „So wie die Eltern die Ernährung positiv oder negativ belegen, nehmen es die Kinder an.“ Und selbst wenn ein Kind eine Zeit lang wirklich nur Nudeln mit Ketchup isst – früher oder später wird das langweilig, sagt Mathilde Kersting. „Irgendwann wird es das Kind toll finden, das Gleiche zu essen wie seine Eltern.“
Kürzlich reichte ich meinem Sohn ein Stück Zuckerschote. Vorsichtig knabbert er an dem grünen Ding herum. Zuckt dann mit den Schultern und sagt im Weggehen „is ok“. Na also.