Das Handy als ständiger Begleiter: Das Smartphone hat unsere Kommunikationskultur für immer verändert. In Hamburg gibt es einen Kurs für Jugendliche, der das Schlimmste verhindern soll.
Letztens wurde mein Handy gestohlen. Ein iPhone 5 in Weiß. Die ersten zwei Stunden trauerte ich nur über den Verlust meines schicken Gerätes, dann setzte nach und nach eine gewisse Hilflosigkeit ein. Ich konnte nicht mehr telefonieren, nicht mehr angerufen werden, weder WhatsApp noch SMS empfangen, keine Mails checken, keine Termine in meinen Kalender eintragen, nicht auf die Schnelle Infos recherchieren, Notizen eintippen oder die Uhrzeit ablesen – sprich: Ich war berufsunfähig. Gleichzeitig stand ich im Regen und vor einem Beförderungsproblem: Ohne Google Maps verriet mir niemand mehr den kürzesten Weg zu meiner Zieladresse. Ich trottete in die nächste U-Bahn-Station; dort fehlte mir zum Bezahlen die HVV-App. Spätestens jetzt war klar, dass mich der Verlust meines Portemonnaies weniger getroffen hätte als der meines Smartphones. In der Bahn fühlte ich mich wie ein Außenseiter. Die anderen Fahrgäste hatten etwas zu tun – ich nicht. Alle starrten auf ihre Apparate, scrollten durch die Newsfeeds, posteten Fotos. Keiner schaute nach oben, sondern in die Tiefen des World Wide Web. Ich guckte in die Röhre.
Es folgten chaotische Tage. Freundinnen wollten sich per WhatsApp-Gruppe verabreden, ich erfuhr nichts davon. Das Kindermädchen wurde plötzlich krank, um ein Haar hätte mein Sohn allein auf der Straße gestanden. Ein Interviewpartner änderte kurzfristig die verabredete Zeit, ich saß wartend im Café. Bei einem anderen Termin war der Treffpunkt unklar. Eine halbe Stunde wanderte ich um den Altonaer Bahnhof, bis ich schließlich mutig genug war, einen jungen Mann in Muskelshirt und tief sitzender Hose zu bitten, mir sein Handy zu leihen. Er nahm dafür nur 50 Cent. Danke noch mal, Digger! Bei der Gelegenheit musste ich feststellen, dass ich nur noch drei Telefonnummern auswendig weiß: die meiner Eltern, die meines Mannes und die meiner Redaktion.
Wie handyabhängig kann man eigentlich sein? Die Antwort: Jeder Dritte greift in jeder freien Minute zum Smartphone und geht online. Das hat der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (Bitkom) in einer repräsentativen Studie ermittelt. Bei jungen Menschen im Alter von 14 bis 29 Jahren sind es sogar 55 Prozent. Und sie überbrücken nicht nur scheinbaren Leerlauf mit ihrem Lieblingsgerät, sondern haben das Unverzichtbare ständig im Blick. Der 15-jährige Sohn einer Freundin nimmt sein Telefon sogar mit aufs Klo und zum Zähneputzen.
Wie schön sei doch der zwölfte Geburtstag ihres Kindes gewesen, erzählte mir eine andere Mutter. Da sei noch laut und wild gefeiert worden. Mit 13 Jahren saßen dann plötzlich alle still um den Tisch und glotzten auf ihre Handys, die sie ab dem Alter haben durften. Wobei ein simples Gerät nicht genügt. Es muss schon ein Smartphone sein, damit der Nachrichtendienst WhatsApp funktioniert. Ein Bekannter berichtet von seinem Kind, das wochenlang traurig von der Schule heimkehrte, weil es ohne die mobile Nachrichten-App nichts von den Treffen seiner Schulfreunde mitbekommen konnte. Ausgrenzung aufgrund von digitaler Mangelausrüstung – eine neue Form des Mobbings ist geboren.
Ein Gerät, das ursprünglich das Miteinanderreden ermöglichen soll, verhindert es nun. „Durch die neuen Technologien sprechen die Menschen teilweise gar nicht mehr miteinander. Die Aufmerksamkeit füreinander leidet,“ sagt Meike Slaby-Sandte. Die Etiketteberaterin steht in der Bar des Hotels Vier Jahreszeiten. Vor ihr ein alkoholfreier Cocktail und fünf Jugendliche, die zum Kurs „Knigge – die nächste Generation“ angetreten sind. Sie möchten alles über moderne Umgangsformen lernen, sehen aber so adrett aus, als hätten sich ihre Eltern die 165 Euro Teilnahmegebühr sparen können. Hinter Spitzenkleidchen und Jackett verbergen sich selten Rotzlöffel. Kursleiterin Slaby-Sandte erklärt ohne erhobenen Zeigefinger, auf lustige Art und Weise, wie man sich beispielsweise richtig zuprostet (Glas heben, in die Runde schauen, trinken, nochmals das Glas erheben und wieder in die Runde schauen), wie man Brot isst (über dem kleinen Teller brechen, der links steht), und wer bei einer Treppe vorgeht (hoch die Dame, runter der Herr). Die nächste Unterrichtseinheit: Umgang mit dem Telefon. „Ihr seid hier in der Bar mit einem Freund und bekommt einen Anruf, geht ihr ran?“, fragt Slaby-Sandte. „Ich würde rangehen und sagen, dass ich später zurückrufe“, sagt Anna, die den Kurs von ihrem Onkel geschenkt gekommen hat. Sehr gut, findet die Etiketteberaterin. „Dadurch zeigt ihr eurem Gegenüber, dass er jetzt wichtiger ist und ihr euch auf ihn konzentrieren wollt.“
Der Barkeeper verdreht die Augen und murmelt etwas von seinem Arbeitsplatz, an dem er sich oft vorkomme wie in einer Telefonzelle: „Jeder Anruf wird angenommen, möglichst laut gesprochen, und dann zeigt man sich auch noch komische Youtube-Videos. Das unterbinde ich sofort, denn es stört die anderen Gäste.“ Beatrice, die für den Kurs extra aus Mainz angereist ist, findet es unangenehm, dass beim gemeinsamen Ausgehen ihre Freunde nur noch mit den mobilen Endgeräten spielen: „Irgendwie sind alle abgelenkt, und es nervt, wenn ich alles dreimal erzählen muss, weil keiner mehr richtig zuhört. Nur meine Großeltern, die können das noch.“ Die hätten allerdings auch kein Handy.
Das ständige „On“-Sein hat verschiedene Auswirkungen: „Jugendliche müssen sich seltener etwas einfallen lassen, um ihre Freizeit auszufüllen. Treffen, Sport, Lesen kommen zu kurz, da es viel einfacher ist, auf ein leicht zugängliches und kurzweiliges Medium wie Handy, iPod, oder Xbox zuzugreifen. Individualität und Kreativität können dadurch verkümmern“, sagt Diplom-Psychologin Julia Petmecky. Auch Lernschwierigkeiten könnten die Folge sein, da das Gehirn durch die hohe Reizdichte irgendwann ermüdet sei und seine Aufnahmefähigkeit erschöpft. Man brauche Zeit, in der man „entspannt und einfach nichts tut. Diese Phasen sind wichtig zur Erholung“, sagt Julia Petmecky.
Um darauf aufmerksam zu machen, hat die AOK Rheinland/Hamburg einen Kreativwettbewerb ins Leben gerufen, bei dem Teenager bewusst mit ihrem steigenden Medienkonsum konfrontiert wurden. „Wir möchten die Heranwachsenden vor einer Online-Sucht schützen“, sagt AOK-Sprecherin Antje Meyer. Mehr als 1000 Teenager sollten die Frage beantworten: „In welchen Situationen nerven Facebook, Smart-phone, Spielekonsole & Co.?“
Die Antworten zeigen, dass die Jugendlichen sehr wohl reflektieren, welchen Einfluss das Handy auf ihr Leben hat. Ein Junge schreibt beispielsweise: „Am meisten stört es, wenn ich müde bin und schlafen gehen möchte. Dadurch hab ich eindeutig zu wenig Schlaf.“ Und ein Mädchen findet: „Eigentlich in jeder Situation, weil man ständig darauf schaut und unglaublich viel Zeit verloren geht.“ Häufigster Kritikpunkt ist, dass Freundschaften durch Smartphones gefährdet werden. So erklärt eine Teilnehmerin: „Meine Freunde verbringen mehr Zeit am Handy als mit mir. In dem Moment stellen sie das virtuelle Leben über das reale, obwohl nur das reale Leben die Erlebnisse und Gefühle schafft, an die wir uns später erinnern werden.“
Warum können wir nicht anders, als ständig aufs Display zu schielen? Es geht um die Organisation des Tagesablaufs und um Ablenkung, natürlich, aber fast handelt es sich auch um eine Pflicht. Soziale Kontakte werden mittlerweile hauptsächlich über das Netz gepflegt. „Wenn Freunde in sozialen Netzwerken neue Einträge veröffentlicht haben, erwarten viele ein schnelles Feedback – am besten in Echtzeit“, sagt Marc Thylmann von Bitkom.
Manche User zeigen bereits suchtartige Verhaltensmuster. Ist das Medium nicht greifbar, werden sie nervös, im schlimmsten Fall kommt es zu aggressiven Ausbrüchen. Im klassischen Diagnosesystem ist das Phänomen „Internetsucht“ zwar noch nicht erkannt, es fällt im Allgemeinen unter „Störungen der Impulskontrolle“. Im Silicon Valley gibt es aber bereist sogenannte Digital-Detox-Camps. In diesen speziellen Ferienlagern sind alle technischen Geräte verboten. Man erhält einen Fantasienamen, sitzt am Lagerfeuer, macht Yoga, backt und versucht, sein analoges Ich wiederzuentdecken. Statt Google gibt es eine Pinnwand, an die man Fragen heften kann. Mails werden durch ein Postfach ersetzt, in dem die Teilnehmer Nachrichten füreinander hinterlassen können. Die Internetplattform Yelp, auf der man Restaurant- und Einkaufstipps austauscht, wird durch eine Pinnwand ersetzt, auf der man Kommentare zum Essen hinterlassen kann. Rund 500 Euro für vier Tage kostet der Spaß.
Eine etwas günstigere digitale Entgiftungsmethode kommt seit 1. Oktober aus Deutschland. Ausgerechnet eine App „(Offtime)“ will Nutzern dabei helfen, einen gesunden Umgang mit der hypervernetzten Welt wiederzuerlangen. „Abschalten muss nicht Isolation bedeuten. Abschalten kann Gelegenheit sein, bestehende Beziehungen zu erneuern. Wir wollen Menschen den Dingen näherbringen, die ihnen wichtig sind. Außerdem wird die Produktivität bei der Arbeit gesteigert, wenn man nicht ständig von eingehenden Störungen abgelenkt wird“, sagt Michael Dettbar, einer der Gründer des Start-up-Unternehmens. Die App funktioniert relativ einfach: Für einen selbst festzulegenden Zeitraum blockiert der Service störende Benachrichtigungen sowie Anrufe und schränkt den Zugriff auf Anwendungen ein, die man als Versuchung empfindet. Für den Notfall kann der Anwender Telefonnummern bestimmen, die jederzeit durchgestellt werden.
Das Ziel ist also, erreichbar sein zu können, ohne auf Abruf stehen zu müssen. Die „Einfach Abschalten“-App trägt tatsächlich zur Erholung von der Arbeit bei, hat eine soeben veröffentlichte Studie des Instituts für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin ergeben. In dieser wurde untersucht, inwieweit Verhaltensweisen im Umgang mit dem Handy aufgebrochen werden können. Bevor sie „(Offtime)“ nutzten, entsperrten die Probanden ihr Smartphone bis zu 63-mal am Tag. Mit den kontrollierten Auszeiten hatten sie deutlich weniger Stress, erholten sich schneller und waren insgesamt motivierter für die Arbeit, so die Ergebnisse der Studie. Sprich: Technik hilft im Umgang mit der Technik.
Man kann sich dem ständigen Informationsbedürfnis natürlich auch einfach ergeben. In China, wo weltweit die meisten Smartphones verkauft werden, ist es so weit. In der Stadt Chongquing wurde eine extra Bürgersteig-Spur für Handy-User gebaut. So versucht man, Unfälle zu vermeiden, die von Menschen verursacht werden, weil sie beim Laufen ständig aufs Display starren.