In Deutschland ist die Erfolgsrate nach Transplantationen geringer als in anderen Ländern. Mediziner und Ethiker debattieren die Vergabekriterien.
Berlin. Die Daten sind verstörend: Organempfänger haben in Deutschland nach der Transplantation eine deutlich schlechtere Prognose als in anderen europäischen Ländern. Einer Studie zufolge funktionieren hierzulande nach einem Jahr noch 67 Prozent der Lebern. Außerhalb des Acht-Länder-Verbunds Eurotransplant, zu dem Deutschland zählt, liegt die Erfolgsrate dagegen bei 83 Prozent. Die Zahlen stammen aus der Collaborative Transplant Study (CTS) – einer seit 1982 bestehenden Datensammlung von Prof. Gerhard Opelz von der Uniklinik Heidelberg. Dort melden mehr als 400 Transplantationszentren aus 45 Ländern freiwillig ihre Resultate.
Prof. Eckhard Nagel, Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Essen, hält die Zahlen dennoch für relevant. „Die Daten spiegeln eine klare Tendenz wider“, sagt der Transplantationschirurg. Bei anderen Organen sieht der Trend ähnlich traurig aus wie bei Lebern: Auch bei verpflanzten Herzen, Lungen und Nieren liegen die Prognosen in Deutschland deutlich unter den Vergleichswerten außerhalb der Eurotransplant-Region.
Hinter den nüchternen Zahlen stecken persönliche Schicksale – Hoffnungen, Ängste, Leid. Bundesweit warten 11.000 Menschen auf ein Organ. Oft vergebens, denn in Deutschland herrscht ein eklatanter Mangel. Die ohnehin niedrige Spendenbereitschaft der Bundesbürger sank nach den Skandalen an einigen Transplantationszentren, bei denen Mitarbeiter Patientendaten manipuliert hatten, auf einen historischen Tiefpunkt: nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation von 1200 Spendern im Jahr 2011 auf 876 im Jahr 2013; die Zahl der Organe fiel von 3917 auf 3035. Die dramatischen Folgen des Mangels erlebt Nagel auch in seiner Klinik: „Im Jahr 2013 starben etwa 80 Menschen auf unserer Warteliste – doppelt so viele wie im Jahr zuvor“, sagt er.
Doch selbst wenn ein Organ zur Verfügung steht, haben Patienten eine schlechte Prognose, wie die CTS-Daten zeigen. Auch das hat viel mit der Spendenunwilligkeit der Bundesbürger zu tun. Denn um die Not zu lindern, entnehmen Ärzte inzwischen Organe, die sie noch vor einigen Jahren nicht berücksichtigt hätten – etwa wegen des hohen Alters der Spender. „Wir greifen inzwischen auch auf sogenannte kritische Organe zurück“, sagt Nagel. „Transplantieren wir einem relativ gesunden Menschen ein solches Organ, kann es sich im Körper erholen. Geben wir es jedoch einem schwerkranken Patienten, ist die Prognose viel schlechter.“
Hier zeigt sich die zweite zentrale Ursache der Misere: der Vergabemodus. Laut Transplantationsgesetz soll sich die Zuteilung nach zwei Kriterien richten – Dringlichkeit und Erfolgsaussicht. Das Problem: Diese Kriterien lassen sich nicht in Einklang bringen, sie widersprechen sich sogar fundamental. Je dringender ein Mensch ein Organ braucht, desto kränker ist er meistens und desto geringer ist die Erfolgsaussicht einer Transplantation. Wäre die Erfolgschance das entscheidende Kriterium für die Organvergabe, entstünde das umgekehrte Dilemma: Viele schwerstkranke oder alte Menschen dürften wohl gar nicht mehr auf ein Spenderorgan hoffen.
Der Vergabemodus ist je nach Organ unterschiedlich. Bei einer Niere wird die Erfolgsaussicht stärker gewichtet als bei Herz, Lunge oder Leber: Zum einen ist bei Nieren die genetische Übereinstimmung zwischen Spender und Empfänger besonders wichtig, zum anderen können viele Patienten jahrelange Wartezeiten per Dialyse überbrücken. Bei der Leber gibt es eine derartige Alternative nicht. Die Vergabe dieses Organs erfolgt in Deutschland seit 2006 nach dem MELD-Score. Anhand von drei medizinischen Daten wird mit ihm die Stellung eines Patienten auf der Warteliste festgelegt. Ziel ist es, den schwerstkranken Patienten zuerst zu einem Organ zu verhelfen. „Man hat damals die Dringlichkeit bewusst nach vorne gebracht“, sagt Nagel, der auch dem Deutschen Ethikrat angehört. „Damit verbunden war die Erwartung, dass die Spenderzahlen steigen würden.“ Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Zwar starben nach 2006 weniger Menschen auf der Warteliste, aber dafür stieg die Sterblichkeit bei den Organempfängern.
Nun strebt die Bundesärztekammer, die laut Transplantationsgesetz für den Vergabemodus zuständig ist, eine Korrektur an. Die ständige Kommission Organtransplantation soll die Kriterien ändern. Künftig soll die Erfolgsaussicht einer Organverpflanzung mehr Gewicht bekommen. „Es geht um Verteilungsgerechtigkeit“, sagt Prof. Bernhard Banas von der Uniklinik Regensburg, der dem Ausschuss angehört. Großbritannien, die Niederlanden und die skandinavischen Länder gehen einen anderen Weg als Deutschland. Dort bekommen nur solche Menschen ein Spenderorgan, bei denen eine hohe Erfolgschance besteht. Andere bedürftige Patienten kommen noch nicht einmal auf die Warteliste. „Sie werden vorher ausgesiebt“, sagt Prof. Christian Strassburg von der Uniklinik Bonn. „Das könnten wir auch machen, aber es widerspricht der Chancengleichheit. Wollen wir das?“
Der Essener Chirurg Nagel sagt: „Zuerst sollten diejenigen Menschen gerettet werden, bei denen man eine hohe Überlebenschance erwartet. Wir müssen den schmalen Grat finden, jenen Patienten zu helfen, die am meisten profitieren, und davon diejenigen zu ermitteln, die am schwersten krank sind.“ Doch gerade für eine solche Gratwanderung benötige man zuverlässige medizinische Daten. „Allein bei der Leber gibt es etwa 50 Erkrankungen, die eine Transplantation erfordern können“, sagt Strassburg. „Wir versuchen bei jedem Patienten eine Gesamteinschätzung vorzunehmen. Die hängt nicht nur von der Leber ab, sondern von vielen anderen Begleitfaktoren, etwa dem Zustand des Herz-Kreislaufsystems oder den Blutzuckerwerten.“
Im Gegensatz zu den USA und vielen anderen Ländern fehlt hierzulande eine umfassende medizinische Datenbasis, die die Folgen von Transplantationen umfassend dokumentiert. Zwar können Mediziner auf Studien und Datenbanken aus dem Ausland zurückgreifen, doch die dortigen Werte lassen sich nicht einfach auf Deutschland übertragen. So ist etwa die Qualität verpflanzter Organe in Deutschland wegen des höheren Alters der Spender geringer als in den USA und vielen anderen Ländern. Ohne zuverlässige Datenbasis Entscheidungen zu treffen, sei wie „Autofahren mit beschlagener Windschutzscheibe“, sagt Strassburg.
Um die Situation zu verbessern, fordern Experten dringend ein nationales Transplantationsregister. Man müsse eine bundesweite Datenbank schaffen, die medizinische Daten von Spendern und Empfängern zusammenführe, sagt Rainer Hess vom Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation. Die Deutsche Transplantationsgesellschaft plädiert schon seit Jahren für ein solches Register. Experten nehmen an, das Vorhaben sei bislang wohl an den Kosten und datenrechtlichen Gründen gescheitert.
Inzwischen habe sich die Große Koalition in ihrer Koalitionsvereinbarung darauf geeinigt, und das Bundesministerium für Gesundheit prüfe die Umsetzbarkeit, sagt Banas, der dem DTG-Vorstand angehört. „Es ist mittlerweile sehr wahrscheinlich, dass das Register kommt. Allerdings werden noch Jahre vergehen, bis daraus wissenschaftlich verwertbare Daten gezogen werden können.“
Aber selbst die beste medizinische Datengrundlage kann das Grundproblem der Transplantationsmedizin in Deutschland nicht lösen: den Mangel an Spenderorganen. „Wir können nicht jeden retten, die Ressourcen sind begrenzt“, sagt Strassburg. „Es muss eine Auswahl geben, nach transparenten Kriterien.“
Wie heikel das ist, zeigte im Herbst eine Sitzung des Deutschen Ethikrates. Dort kritisierte die Psychosomatikerin Gertrud Greif-Higer von der Uniklinik Mainz die derzeitige Lage: Die Bevorzugung der Dringlichkeit zwinge Patienten dazu, „so lange zu warten, bis sie so schwer krank sind, dass sie nur noch mit schlechter Erfolgsaussicht transplantiert werden können“. Dagegen verteidigte der Philosoph Prof. Micha Werner von der Universität Greifswald die Dringlichkeit als vorrangiges Kriterium bei der Organvergabe.
Eine gerechte Organverteilung sei zunächst einmal eine ethische Frage, sagte die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Prof. Christiane Woopen von der Universität Köln. Es gebe nicht ein einzelnes Kriterium für die Vergabe. Vielmehr müssten mehrere Kriterien in einer öffentlichen Debatte bestimmt und auch gewichtet werden. Daran hapere es noch, klagt auch Banas: „Es gibt in der Öffentlichkeit bisher keine Diskussion darüber, wie man die Organe am besten verteilt.“