Der Meeresspiegel steigt. Eine Karte zeigt, wie Europa aussieht, wenn alles Eis getaut ist und die Ozeane sich ausdehnen. Eine der großen Unbekannten ist der gewaltige Thwaites-Gletscher in der Westantarktis.
Hamburg/Potsdam. Hamburg ist von der Landkarte verschwunden, Berlin fast komplett, Dortmund ist eine Küstenstadt und Metropolen wie New York und London lägen ebenso unter Wasser wie die Niederlande, Dänemark, Bangladesch und das Amazonasbecken. In ihrer September-Ausgabe zeigt die Zeitschrift „National Geographic“ auf einer Weltkarte, welche Folgen das Abschmelzen aller Gletscher und Polkappen für die heutigen Küstenregionen der Erde hätte: Sie lägen bis zu 66 Meter tief unter dem Meeresspiegel. Wohlgemerkt: Das ist kein Szenario, das in einigen Jahrzehnten eintreten kann, sondern allenfalls in einigen Tausend oder Hunderttausend Jahren.
Was die Weltkarte zeigt, ist der vom Geologischen Dienst der USA errechnete Endpunkt dessen, was derzeit abläuft: der Meeresanstieg als Folge des Verbrauchs aller fossilen Brennstoffe durch sieben, bald neun Milliarden Menschen. Durch den Ausstoß von Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen hat sich die Erde im vergangenen Jahrhundert um 0,8 Grad erwärmt. Das ließ den Meeresspiegel um 20 Zentimeter ansteigen. Selbst wenn die Menschheit morgen plötzlich aufhören würde, fossile Brennstoffe zu nutzen, würden die bereits freigesetzten Treibhausgase den Planeten noch für Jahrhunderte aufheizen.
Im Mai 2013 erreichte die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre 400 ppm (Teile pro Million Luftpartikel). Einen so hohen Wert gab es zuletzt vor drei Millionen Jahren. Damals lag der Meeresspiegel etwa 20 Meter über dem heutigen Stand; die Nordhalbkugel war weitgehend eisfrei.
Die Prognosen für die nahe Zukunft klaffen weit auseinander. Das beruht darauf, dass die Forscher mit Szenarien rechnen. Die berücksichtigen schwer einschätzbare wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen. Doch Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung gibt zu bedenken: „Frühere Prognosen zum Meeresspiegelanstieg sind inzwischen von den Messdaten überholt worden.“
Die globale Erwärmung beeinflusst den Meeresspiegel auf zweierlei Weise. Etwa ein Drittel des gegenwärtigen Anstiegs ist darauf zurückzuführen, dass sich Wasser beim Erwärmen ausdehnt. Dazu kommt das Abschmelzen des Inlandeises. Bisher betraf dies vor allem Gletscher in den Hochgebirgen, aber die große Sorge gilt den gigantischen Eisschilden in Grönland und der Antarktis, in denen das meiste Eis lagert.
Vor sechs Jahren prognostizierte der Weltklimarat (IPCC) in seinem Bericht, dass die Weltmeere bis Ende des Jahrhunderts um maximal 59 Zentimeter ansteigen würden. Doch dieser Report ließ bewusst außer Acht, dass die Eisschilde schneller ins Meer abgleiten könnten: Die physikalischen Prozesse seien nicht hinreichend erforscht, so die Forscher damals. Ende September will der IPCC einen neuen Bericht vorlegen, in dem vermutlich ein stärkerer Anstieg vorhergesagt wird. Klimawissenschaftler schätzen, dass Grönland und die Antarktis zusammen seit 1992 pro Jahr rund 208 Kubikkilometer Eis verloren haben – also rund 200 Milliarden Tonnen Eis jährlich.
Viele Experten rechnen damit, dass die Meere bis zum Jahr 2100 um bis zu einen Meter ansteigen werden. Doch selbst diese Zahl könnte zu niedrig sein. „Zuletzt haben wir ein beschleunigtes Abschmelzen der Eisschilde in Grönland und der Antarktis beobachtet“, sagt Radley Horton von der Columbia-Universität in New York. „Falls diese Beschleunigung anhält, ist zu befürchten, dass der Meeresspiegel bis zum Ende des 21. Jahrhunderts um 1,80 Meter steigen könnte.“
Im vergangenen Jahr prognostizierte das pessimistischste von vier Szenarien einer von der US-Wetter- und Ozeanografiebehörde berufenen Kommission einen Meeresspiegelanstieg um zwei Meter. Das Ingenieurskorps der US-Armee empfiehlt Planern, mit 1,50 Metern Anstieg zu rechnen.
Eine der großen Unbekannten ist der gewaltige Thwaites-Gletscher in der Westantarktis. Durch den steigenden Meeresspiegel könnte mehr Wasser zwischen den Gletscher und den Gebirgszug darunter einsickern und die Eismasse aus ihrer Verankerung lösen. Erst im Juli brach eine Schelfeisfläche von der Größe Hamburgs vom benachbarten Pine-Island-Gletscher ab.
Sollte sich der Thwaites-Gletscher aus seinem felsigen Bett losreißen, würde so viel Eis frei, dass der Meeresspiegel allein deshalb um drei Meter steigt. „Noch sieht es zum Glück nicht so aus, dass dies in den nächsten 100 Jahren passieren wird“, sagt Richard Alley von der Penn-State-Universität, einer der Autoren des letzten IPCC-Berichts. „Aber es bleibt eine gewisse Möglichkeit, dass wir eine böse Überraschung erleben.“
So oder so sind Städte an den Küsten doppelt bedroht: Ansteigende Ozeane überschwemmen nach und nach tief gelegene Gebiete, der höhere Meeresspiegel verstärkt zudem die zerstörerische Wirkung von Sturmfluten. Um das Jahr 2100 wird eine Jahrhundertflut wie nach dem Tornado „Sandy“ möglicherweise alle zehn Jahre losbrechen.
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) schätzt, dass bis zum Jahr 2070 etwa 150 Millionen Menschen in den größten Hafenstädten durch Überschwemmungen gefährdet sein werden. Dazu kommen Sachwerte von knapp 20 Billionen Euro – das entspricht neun Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts. Wie werden die Städte damit umgehen?