Hamburger Forscher planen autonome Frachtschiffe, die – überwacht von automatischen Systemen – ferngesteuert über die Ozeane fahren sollen.
Harburg. In der nordischen Mythologie schickt der Gott Odin jeden Tag vor Sonnenaufgang seine beiden Raben los, um für ihn Neuigkeiten aus der Welt zu erkunden. Unabhängig und völlig eigenständig machen sie sich dann auf den Weg, um Nachrichten für ihren Meister zu transportieren. "Munin" heißt einer dieser geheimnisvollen Vögel. "Munin" heißt auch das neue EU-Forschungsprojekt für die Zukunft der europäischen Schifffahrt. Koordiniert wird es vom Fraunhofer-Center für Maritime Logistik und Dienstleistungen (CML) in Hamburg. Projektleiter ist der junge Wirtschaftsingenieur Hans-Christoph Burmeister. Vater und Großvater des 27-Jährigen fuhren noch zur See. "Wenigstens in der Forschung habe ich nun auch damit zu tun", sagt Burmeister. Sein Beitrag könnte allerdings die Seefahrt revolutionieren, mehr noch als der Übergang vom Segel- zum Maschinenschiff: "Munin" steht für "Maritime Unmanned Navigation through Intelligence in Networks" - für autonome Frachtschiffe, die in Zukunft völlig ohne Besatzung, allein und eigenständig wie eben der Rabe Odins über die Ozeane fahren sollen.
Die EU finanziert das Projekt mit 2,9 Millionen Euro, beteiligt sind acht Partner: Unternehmen und andere Forschungsinstitute aus Nordeuropa, vor allem aus Skandinavien - was das Spiel mit den Anfangsbuchstaben auch erklären dürfte.
Die Idee von "Munin": Während die Frachter ihre einsamen Bahnen über die Weltmeere ziehen, werden sie von automatischen Systemen überwacht und gesteuert. Radar, Laseraugen oder Kameras erkennen, wann ein Kollisionskurs droht; IT-Technik drosselt bei Sturm die Fahrt, navigiert und übernimmt die Steuerung von Ruderanlage und Maschine. Sensoren ermitteln, wenn Motorenteile vor dem Verschleiß stehen - damit sie rechtzeitig während der Liegezeiten ausgetauscht werden können. Bei besonderen Gefahrensituationen schaltet sich eine Landstation ein, in der Nautiker mithilfe von Satellitentechnik das crewlose Schiff steuern können.
Das klingt ein wenig nach Science-Fiction, nach modernen Geisterschiffen - hat aber einen nachvollziehbaren Hintergrund, wie "Munin"-Projektleiter Christoph Burmeister erläutert. Um das zu zeigen, bittet er in einen Nebenraum im fünften Stockwerk im Haus D der Technischen Universität Hamburg-Harburg, wo das Fraunhofer-Center angesiedelt ist. Mit mehreren Bildschirmen, Laptops und einem Steuerstand ist dort ein kompletter Schiffssimulator aufgebaut. Parameter wie Strömung, Wind, Wellen, andere Schiffe - das alles können die Rechner simulieren. Noch wird hier meist von Hand gesteuert, doch bald schon soll die Technik das Ruder übernehmen.
"Die automatischen Systeme dazu sind eigentlich schon recht weit", sagt Burmeister. Auch heute schon werden die langen Strecken auf den Ozeanen in der Seefahrt vorwiegend mit Autopiloten gesteuert - während der wachhabende Offizier Büroarbeiten erledigen kann und hin und wieder nur die Instrumente beobachtet. Das "Munin"-Projekt entwickelt diese tägliche Praxis an Bord einfach nur weiter - völlig andere Schiffe als heute sind dafür nicht notwendig, sagt Burmeister. Nur eine andere Technik, sie zu steuern.
Dabei sind es weniger Einsparungen bei Personalkosten, die im Fokus der Forscher stehen. Hintergrund des EU-Auftrags sei vielmehr die Entwicklung einer nachhaltigen europäischen Seefahrt - unter ökologischen wie sozialen Aspekten. Denn schon jetzt finden sich immer weniger junge Menschen, die eine Ausbildung als Nautiker anstreben, sagt Burmeister. Oft erwarten sie monotone und eher langweilige Arbeitstage fern von Familie und Freunden, wenn das Schiff wochenlang auf See ist, um von Kontinent zu Kontinent zu schippern. Zugleich gibt es den Trend zum "Slow Steaming", zur bewussten Langsamfahrt, um die hohen Treibstoffpreise zu senken - was gleichzeitig auch den Schadstoffausstoß deutlich reduziert und Schifffahrt umweltfreundlicher macht.
Im Blick haben die "Munin" Forscher zudem weniger Containerschiffe, die nach strengem Linienfahrplan viele Häfen anlaufen. Vielmehr sind es Massengutfrachter, die Güter wie Erz oder Kohle von einem Punkt der Erde zu einem anderen bringen. Güter, die meist nicht zeitkritisch sind und für die es nicht so wichtig ist, ob sie zwei Wochen früher oder später geliefert werden. "Slow Steaming" bedeutet dann aber auch, dass mehr Schiffe eingesetzt werden, um die gleichen Mengen zu bewegen, folglich auch mehr Personal gebraucht würde.
Nach dem angestrebten Konzept des "Munin"-Projekts werden die Seeleute ein autonomes Schiff noch aus dem Hafen heraus bis zur freien See fahren. Etwa von Hamburg bis zum Ausgang des Ärmelkanals; danach erst übernimmt die Technik. Bei einlaufenden Schiffen wäre es umgekehrt. Wie heute Lotsen sind die Crewmitglieder dann nur einige Stunden oder wenige Tage an Bord. "Die spannende Revierfahrt machen die Menschen, den langen, langweiligen Teil die Technik", sagt Burmeister. Das mache den Beruf wieder attraktiver.
Noch aber ist es ein weiter Weg dorthin. Auf drei Jahre ist das Forschungsprojekt angelegt. Nicht nur technische Dinge müssen dabei geklärt und entwickelt werden. Neben Ingenieuren oder Informatikern sind auch Juristen dabei, sozusagen mit an Bord: So gibt es beispielsweise nach internationalem Seerecht eine Ausguckpflicht für Schiffe. Kann so etwas von Kameras und Landstationen übernommen werden, muss es dazu gesetzliche Änderungen geben? Mit solchen Fragen beschäftigt sich das Projekt ebenfalls, sagt Burmeister. Am Ende schließlich soll wirklich ein autonomes Schiff auf den Weg geschickt werden. Allerdings zunächst nur in der Simulation an den Computern in Harburg.
Wann tatsächlich Frachter ohne Besatzung - unabhängig wie der Rabe "Munin" - über die Ozeane fahren, ist heute noch offen. Neue Ideen, um den Menschen die Seefahrt zu erleichtern, dürfte "Munin" aber allemal in Erfahrung bringen. "Man muss Visionen weiterdenken, um zu Lösungen zu kommen", sagt Burmeister.
Und nur Science-Fiction ist die Idee von autonomen Schiffen eben auch nicht. So gibt es bereits kommerziell erfolgreich betriebene autonome U-Boote, die unter anderem zur Vermessung des Meeresbodens eingesetzt werden. Der Produktname des Herstellers lautet "Hugin" - so, wie der zweite Rabe Odins heißt.