18 Menschen sterben am 17. Juli 1932 in Altona bei einem Polizeieinsatz. Anlass ist ein Umzug von 7000 Nationalsozialisten durch “Klein Moskau“.
Altona. Es mag eine Laune des Schicksals sein. Als Walter Kopitzsch, Polizeiwachtmeister der Preußischen Schutzpolizei Altona, am17. Juli 1932 einen Propagandamarsch von Nationalsozialsten durch die Altonaer Altstadt absichern muss, dürfte er nicht im Traum daran gedacht haben, dass sein Sohn Wolfgang 80 Jahre später mit einer ähnlichen Herausforderung zu tun haben wird. Wolfgang Kopitzsch ist derzeit Polizeipräsident von Hamburg, sitzt am großen Besprechungstisch in seinem Büro. Draußen vor dem Fenster des Polizeipräsidiums in Alsterdorf setzt gerade ein Airbus 320 der Lufthansa zur Landung in Fuhlsbüttel an. Der Polizeipräsident rührt nachdenklich den Tee in seiner Tasse um. Anfang Juni hatte Hamburgs Polizei einen rechtsextremen Propagandamarsch durch Wandsbek gegen Attacken von Anhängern aus dem linken politischen Spektrum zu schützen.
„Fünf Stunden gewalttätige Angriffe auf die Polizei, bevor auch nur ein Rechtsradikaler losmarschiert war“, sagt Kopitzsch junior und schüttelt leicht den Kopf. Dafür die Beamtinnen und Beamten zu motivieren, sei nicht leicht, fügt er hinzu. Eine Polizei, die bei der Verteidigung der Demokratie zwischen die Fronten von Extremisten gerät. Es scheint, als hätte Deutschland aus seiner Geschichte nicht gelernt. „Ja, mein Vater war damals im Jahr 1932 dabei“, sagt Kopitzsch mit leiser Stimme. „Und er hat gelitten.“ Schließlich habe sein Vater - wie viele Altonaer Polizeibeamte seinerzeit - den Sozialdemokraten nahe gestanden. In seinem Tagebuch spricht Walter Kopitzsch vom „furchtbarsten Tag“ des Jahres 1932 und von „Brudermord“. 18 Menschen sterben an jenem 17. Juli. Zumeist unbeteiligte Passanten.
Wolfgang Kopitzsch wird, auch durch die Gespräche mit dem Vater, für dieses Thema sensibilisiert. 1973 widmet der heutige Polizeipräsident seine Examensarbeit - er hatte Geschichte studiert - diesem Thema. „Ich habe mit Hilfe meines Vaters mit vielen Zeitzeugen sprechen können“, erzählt Kopitzsch. Geholfen habe zudem das Tagebuch seines Vaters. Als die Arbeit fertig ist, erlebt Kopitzsch eine Überraschung. Obwohl es bis dahin kaum eine so umfassende Aufarbeitung der Ereignisse des 17. Juli 1932 gegeben hatte, darf seine Examensarbeit als Buch zunächst nicht erscheinen. „Das lag wohl daran, dass erstmalig der Versuch unternommen wurde, die Verantwortung umfassend zu untersuchen und nicht nur einseitige Schuldzuweisungen vorzunehmen“, sagt Kopitzsch heute.
Politisch aufgeheizte Jahre
Doch der Reihe nach. Es sind politisch aufgeheizte Jahre, die ersten im dritten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Viele Menschen in Deutschland leiden unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise. Tausende verlieren ihre Arbeit, anderen wird der Lohn gekürzt. Wieder andere haben kaum Aussicht auf ein eigenes Dach über dem Kopf. Die Reichsregierung in Berlin gilt nach Wahlen im Zwei-Jahres-Rhythmus als geschwächt. Während der Ruf nach einem starken Führer und der Einfluss der Nationalsozialisten unter den Deutschen wächst, stehen Sozialdemokraten und Kommunisten sich unversöhnlich gegenüber. 1924 hatte Grigori Sinowjew, ein Weggefährte Josef Stalins, den Begriff Sozialfaschismus erfunden. Kommunisten halten die Sozialdemokratie für den „linken Flügel des Faschismus“ und damit für den wichtigsten politischen Gegner.
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+++ Der Kriminalroman zu den Ereignisse vor 80 Jahren: "Blutsonntag" - von Robert Brack - Edition Nautilus 2010 +++
In Hamburg leben zu diesem Zeitpunkt rund 1,2 Millionen Menschen, in Altona sind etwa 300.000. Die Grenze zwischen beiden Städten ist fließend und im Alltag kaum zu bemerken. Erst mit dem Groß-Hamburg-Gesetz, das 1938 in Kraft tritt, wird Altona zur Einheitsgemeinde Hamburg gehören. Sowohl Hamburg als auch Altona gelten als „rote Stadt“, in denen die Nationalsozialisten eher schwer Fuß fassen können. Statt dessen haben SPD und KPD hier das Sagen. Wolfgang Kopitzsch beschreibt in dem von Heinrich Breloer und Horst Königstein herausgegebenen Buch „Blutgeld - Materialien zu einer deutschen Geschichte“ Altona als eine Stadt, die überwiegend durch eine starke Arbeiterbevölkerung geprägt ist. „Die KPD war besonders in den Gebieten der Altonaer Altstadt stark.“ Die mittelständische und großbürgerliche Bevölkerung lebt eher in den Randbezirken Altonas.
Hinzu kommt: „Die Gesellschaft in Deutschland ist in dieser Zeit durch und durch militarisiert“, beschreibt Kopitzsch die Atmosphäre in jenen Jahren. Aus den Zeiten des ersten Weltkrieges sind noch viele Waffen im Umlauf. Sich eine Pistole zu besorgen, ist denkbar einfach, wie Robert Brack es in seinem Roman „Blutsonntag“ - das Buch erzählt die Vorgänge aus Sicht der Kommunistin Klara Schindler - schildert . „Es dürften fast schon bürgerkriegsähnliche Zustände geherrscht haben“, sagt Kopitzsch. In „extremen Teilen“ der Parteien gelte Mord durchaus als legitimes Mittel in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Fast alle großen Parteien haben ihre „Wehrorganisation“: die KPD den Roten Frontkämpferbund, die SPD das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und die Nationalsozialisten die SA (Sturmabteilung) sowie die SS (Schutzstaffel).
Diese werden vor allem bei Attacken auf den politischen Gegner sowie zum Schutz von Umzügen und Protestmärschen eingesetzt. Demonstrationen sind ein geeignetes Instrument, die eigene Propaganda unters Volk zu bringen. Als die Reichsregierung von Franz von Papen am 16. Juni 1932 ein Verbot von SA und SS aufhebt, ist das vor allem für die Nationalsozialisten ein Signal, keine Möglichkeit auszulassen, „die Straße zu erobern“. Die Folgen sind dramatisch: Eine Vielzahl an gewalttätigen Zusammenstößen vor allem zwischen Anhängern der Kommunisten und der Nationalsozialisten prägt den Wahlkampf für die Reichstagswahlen am 31. Juli 1932. Deutschlandweit sterben bei diesen Auseinandersetzungen innerhalb nur eines Monats 99 Menschen. Mehr als 1100 werden verletzt.
Nazis nutzten Schleswig-Holstein Aufmarschbasis
Auch Schleswig-Holstein ist in jenen Wahlkampfwochen Schauplatz blutiger Zusammenstöße. In den ersten Julitagen werden zwei Sozialdemokraten und zwei Kommunisten durch Nationalsozialisten umgebracht. Das ländlich geprägte Schleswig-Holstein weist „nur wenige Zentren der Arbeiterbewegung“ auf, schreibt Kopitzsch. Nationalsozialisten können dort besonders erfolgreich um Anhänger werben. Doch je stärker die Nazis im ganzen Reich werden, desto mehr wollen sie auch in dessen Großstädten auftrumpfen. „Nachdem zunächst die Agitation der NSDAP von den Städten auf‘s Land ging, veränderte sich diese Richtung später von den nationalsozialistischen Hochburgen auf dem Lande in die Städte.“
Insofern, das ist allen politisch Verantwortlichen in der Woche vor dem 17. Juli 1932 klar, erhält ein Propagandamarsch von Nationalsozialisten durch „Klein-Moskau“, wie Altona zu dieser Zeit auch genannt wird, eine besondere Bedeutung. Die Nationalsozialisten wollen es den "Roten" in deren "eigenem Hinterhof" einmal richtig zeigen, Sozialdemokraten und Kommunisten verstehen den geplanten Marsch als Provokation.
Wie aufgeheizt die Stimmung vor den Altonaer Ereignissen ist, beschreibt der Regierungspräsident von Schleswig-Holstein, Waldemar Abegg, in einem unmittelbar nach den Ereignissen erstellten und durchaus einseitigen Bericht an den damaligen preußischen Innenminister Carl Severing. „Die politische Lage im Regierungsbezirk war in der Woche vor den blutigen Unruhen in Altona am 17. d. Mts. allgemein außerordentlich gespannt.“ Insbesondere ein Überfall von Nationalsozialisten auf das Gewerkschaftshaus in Eckernförde habe bei den Kommunisten „starke Erregung und Erbitterung“ hervorgerufen. „Aus verschiedenen Teilen des Regierungsbezirkes kamen Nachrichten, dass die Kommunisten bei sich bietender Gelegenheit versuchen wollten, ,Rache für Eckernförde‘ zu nehmen“, so Abegg.
Auch in der Presse mehren sich Artikel, in den auf die Gefahren durch den NSDAP-Marsch verwiesen werden. So geraten bereits einige Tage vor dem Blutsonntag bei drei Umzügen der NSDAP in Altona Nationalsozialisten und Kommunisten aneinander. Angesichts der aufgeheizten politischen Lage und der blutigen Vorgeschichte ist es unverständlich, warum Altonas Polizeipräsident Otto Eggerstedt für den 17. Juli 1932 den Demonstrationszug genehmigt. Schließlich wollen 7000 vor allem aus Holstein zusammengezogene uniformierte SA-Leute durch Altona marschieren.
Aus Sicht von Wolfgang Kopitzsch gibt es keinen alleinigen Schuldigen. „Es gab viele unglückliche Umstände, manches war vorsehbar“, sagt er. Mit den unglücklichen Umständen dürfte Kopitzsch beispielsweise die Tatsache meinen, dass Eggerstedt an jenem Sonntag auf Wahlkampfreise in Schleswig-Holstein unterwegs ist. Zudem hat Altonas Polizeipräsident seinem Stellvertreter, Oberregierungsrat Schabbehard, frei gegeben. Damit liegt die Last der polizeilichen Entscheidungen auf den Schultern von Regierungsrat Andritzke, dem Leiter des Polizeiamts Wandsbek.
Das Problem: Andritzke hat mit derart großen Demonstrationen in einer politisch so heiklen Situation gegen keine Erfahrungen. Zwar empfängt Andritzke am Sonnabend vor dem Umzug „eine Delegation der kommunistischen-antifaschistischen Aktion“, lehnt aber deren Forderung nach einem Verbot der Nazi-Veranstaltung ab. Und das, obwohl vielen klar ist, dass auch unter den Kommunisten die Weichen auf Konfrontation gestellt sind. So machen die Mitglieder der Delegation in dem Gespräch mit Andritzke keinen Hehl daraus, dass sie „zur Selbsthilfe greifen“ würden, wenn die Nazis marschierten.
Auf einem Flugblatt heißt es, die Arbeiter würden alles tun, „um den Zug der Hitlerbanden zu verhüten“. Alle „klassenbewussten Arbeiter“ sollten am Sonntag „auf die Straße“ gehen. Im weiteren Verlauf des Sonnabends erhält die politische Polizei Hinweise darauf, dass von Seiten der Hamburger Kommunisten für den Sonntag Maßnahmen gegen den Umzug geplant sind, schreibt Kopitzsch. Unmittelbar vor Beginn der Nazidemonstration wird ein an Kommunisten gerichteter Aufruf bekannt, sich in der Breiten Straße in Altona zu versammeln.
Den Sozialdemokraten dagegen ist an einer Entspannung der Situation gelegen. Sie geben die Parole aus, sich an besagtem Sonntag möglichst fern von Altona und dem Umzugsgebiet zu halten. „Die SPD hatte das Reichsbanner aus Altona zu einer Versammlung nach Itzehoe beordert und im ,Hamburger Echo‘ nachdrücklich vor jeder Provokation und Gewalttat gewarnt“, schreib Kopitzsch.
Der Tag der Marsches
Der Aufmarsch der Nationalsozialisten beginnt am 17. Juli gegen 12.30 Uhr zwischen dem Altonaer Bahnhof und dem Altonaer Rathaus. Dort versammeln sich die Teilnehmer. Gegen 15 Uhr marschieren gut 7000 Nationalsozialisten los. Der erste Teil des Umzuges verläuft weitgehend ohne Störungen, erzählt Wolfgang Kopitzsch. Sein Vater ist an der Spitze des Zuges eingesetzt. Gegen 16.45 Uhr läuft dann „bei dem Inspektionsführer die Meldung ein, dass in der Grünen- und Kirchstraße Polizeibeamte von Dächern und Balkonen beschossen" würden, schreibt zumindest Abegg. Wenig später wird der Demonstrationszug überfallen: Geschossen wird „aus den Häusern, von den Dächern und den Balkonen der an der Ecke liegenden Häuser“.
Die Situation ist chaotisch. Zwei Teilnehmer der Nazi-Demonstration brechen tödlich getroffen zusammen. Der Inspektionsführer befiehlt umgehend „volle Deckung!“, heißt es in dem Abegg-Bericht. Die Polizei schießt „mit Pistolen und Karabinern“. Zudem fordern Polizisten Hausbewohner auf, die Fenster zu schließen. „Kaum hieß es ,Fenster zu!‘, da ging das Geballere auch schon los“, beschreibt eine Figur im Roman „Blutsonntag“ die Situation. Offene Fenster werden beschossen, geschlossene auch; immer dann, wenn ein Polizist glaubt, dahinter etwas gesehen zu haben. „Aber was sieht man denn hinter einem geschlossenen Fenster schon?“, fragt der Zeuge. „Trotzdem, in unserer Straße hat ein Beamter geglaubt, er sei vom Haus Nummer 20 aus unter Feuer genommen worden.“ Sofort gab er „an seine Leute“ den Befehl, "draufzuhalten“.
Als die Ordnungspolizei aus Hamburg herankommt, „prasselte Schnellfeuer in die Große Marienstraße rein“, erzählt eine weitere Figur in dem Roman "Blutsonntag". „Die wurde systematisch gesäubert.“ Als erneut Schüsse aus einem Hinterhalt fallen, nehmen Polizisten „die Balkone und Dächer unter Beschuss“. Zahllose Einschüsse an Fassaden legen später Zeugnis von der Feuerwucht der Polizei ab. Der Polizeieinsatz ist in diesen Minuten längst außer Kontrolle geraten. Passanten werden verprügelt, verletzt, in Seitenstraßen vertrieben. Von etwa 90 Verhaftungen wird später die Rede sein. Immer wieder dringen Polizisten auf der Suche nach Heckenschützen gewaltsam in Häuser und Wohnungen ein. Obwohl die Nationalsozialisten längst flüchtend abgezogen sind, schießen Polizisten weiter, um Ruhe und Ordnung wieder herzustellen.
Blutige Bilanz und politische Folgen
Die Bilanz des Tages ist blutig. 18 Menschen sterben. Neben den beiden - mit hoher Wahrscheinlichkeit durch eine kommunistische Schützengruppe aus Hamburg - erschossenen Nazis verlieren 16 Menschen - zumeist unbeteiligte Zivilisten - ihr Leben. Ihr Tod wird nie vollständig aufgeklärt. Heute gilt als aber gesichert, dass alle durch Kugeln aus Karabinern sterben: Waffen, die in jener Zeit von der Polizei bei Straßenkämpfen eingesetzt werden.
Trotz vieler Hausdurchsuchungen und Verhaftungen findet die Polizei kaum Waffen. Vermutlich können „Schützen über die Dächer zum Teil entkommen“, berichtet Abegg an den preußischen Innenminister. Allerdings fällt den Beamten auch auf, dass sich in Häusern und Wohnungen, aus denen geschossen wurde, viele Frauen aufhalten. Abegg vermutet, dass diese die Schützen unterstützt hatten, aber aus Gründen der Schicklichkeit nicht untersucht werden.
Für Deutschland hat der Altonaer Blutsonntag wichtige politische Folgen. Drei Tage später, am 20. Juli 1932, wird bei dem „Preußenschlag“ die geschäftsführende Regierung des Freistaats Preußen durch einen Reichskommissar ersetzt. Damit geht die Staatsgewalt im größten Land des Deutschen Reiches auf die Reichsregierung über und erleichtert später die Zentralisierung des Reiches unter Adolf Hitler. Ein Jahr später werden in einem ersten Verfahren vor dem Sondergericht Altona vier Kommunisten wegen der Ereignisse am Altonaer Blutsonntag zum Tode verurteilt. Der Taten, deretwegen sie angeklagt werden, können sie nicht überführt werden. Die Urteile werden erst 1994 aufgehoben.
Der Vater von Wolfgang Kopitzsch wird nach der Machtübernahme aus dem Preußischen Polizeidienst entlassen. Nach dem Zusammenbruch des Naziregimes verschlägt es die Familie nach Thüringen. Und weil Walter Kopitzsch auch dieses Mal seiner sozialdemokratischen Gesinnung treu bleibt und die Zwangsvereinigung von KPD und SPD in der sowjetischen Besatzungszone ablehnt, wird er auch hier aus dem Polizeidienst entlassen. „Es war für meinen Bruder und mich ein prägendes Erlebnis, dass unser Vater gleich von zwei Diktaturen aus dem Dienst entfernt wurde“, sagt sein Sohn Wolfgang, der heute Polizeipräsident in Hamburg ist.