Was veranlasst Menschen dazu, ihr Handeln nach Geheimnissen auszurichten und sich davon dominieren zu lassen - im Film wie im echten Leben?
Vatikanstadt. Niemand kam dem Papst näher. Der Kammerdiener "Paoletto", auserwähltes Mitglied der päpstlichen Familie, hatte die Schlüssel zu jedem Zimmer und zu jedem Schrank von Benedikt XVI. Seit sechs Jahren war er einer seiner engsten Mitarbeiter: Er weckte den Papst jeden Morgen, half ihm beim Ankleiden, begleitete ihn zur Morgenmesse und zu den Audienzen und aß zusammen mit ihm Frühstück, Mittag und Abendbrot.
Inzwischen sitzt Paolo Gabriele im päpstlichen Verlies und wird verhört. Der 46-Jährige soll vertrauliche Briefe und Dokumente des Papstes entwendet und zur Veröffentlichung an italienische Medien weitergegeben haben. Seit Monaten schon wurde im Vatikan nach einer undichten Stelle gesucht, denn interne Informationen aus den Akten des Papstes waren wiederholt in der Öffentlichkeit aufgetaucht - zuletzt im Buch "Seine Heiligkeit" des italienischen Journalisten Gianluigi Nuzzi.
Menschen, die ein Doppelleben führen, haben etwas Faszinierendes an sich. Ihnen gelingt eine schwierige Gratwanderung: Sie vereinen eine gut funktionierende Fassade mit einem zweiten Leben, das wie ein herausgefallenes Puzzleteil nicht so recht zum Rest passen will. Oft sieht es dabei - wie im Fall des Kammerdieners - nach geplanter Täuschung aus. Doch Psychologen zufolge entsteht eine Doppelexistenz oft ohne böse Absicht: aus einem außer Kontrolle geratenen Geheimnis.
Auch bei Arthur, der seine Geschichte in der Dokumentation "Die Heimlichtuer" von Walter Krieg erzählt, war das so. Arthur verlor seinen Job in der Geschäftsleitung eines Automobilunternehmens mitten in der Finanzkrise. Ein Job, der ihm viel Ansehen und in Spitzenzeiten bis zu 200 000 Euro Jahresgehalt einbrachte.
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Er habe nicht damit gerechnet, jemals arbeitslos zu sein, sagt er. Und schon gar nicht damit, es zu bleiben. Er wollte die Familie nicht beunruhigen. So fuhr er jeden Tag weiterhin zur Arbeit, die es nicht mehr gab - monatelang, denn der erhoffte neue Job kam nicht. Abends erzählte er zu Hause aus dem nicht mehr existierenden Büroalltag, und tagsüber tat er nichts. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus und beichtete alles seiner Frau.
Wie bei Arthur soll ein Geheimnis oft einen unschönen kleinen oder großen Makel im eigenen Leben ausradieren, diesen unsichtbar machen und ungeschehen. "Wenn wir unsere Geheimnisse kontrollieren können und sicherstellen, dass sie nur das tun, was wir von ihnen wollen, dann kann das Leben mit ihnen tatsächlich einfacher werden", schreibt die Psychiaterin Gail Saltz. "Aber wenn Geheimnisse aus der Bahn laufen und anfangen, uns zu kontrollieren, dann wird aus dem normalen Leben ein geheimes zweites Leben."
Die Professorin an der Cornell School of Medicine in New York hat 2006 das Buch "Anatomie eines geheimen Lebens" veröffentlicht. Ihr zufolge sind Geheimnisse Teil eines jeden Lebens. Das kann helfen, widersprüchliche Aspekte der Persönlichkeit nicht ganz verleugnen zu müssen. Häufig drehen sich Geheimnisse um etwas, das gesellschaftlich nicht toleriert werden würde. "Menschen haben viele Geheimnisse - vor sich selbst und vor anderen", sagt Saltz. "Und sie zwingen uns dazu, vorsichtig zu sein."
Diese Vorsicht ist es nach Ansicht von Dan Wegner von der Harvard University auch, die ein Geheimnis oft zu einem gefährlichen Sog macht, aus dem es später kein Entkommen mehr gibt. Der Sozialpsychologe glaubt zwar, dass Geheimnisse wichtig dafür sind, eine eigene Individualität zu entwickeln und ein Gefühl dafür, selbst kontrollieren zu können, was man von sich preisgibt und was nicht. Allerdings seien Geheimnisse auch immer problematisch. Denn sie suggerieren, dass ein Teil der eigenen Person sozial unerwünscht ist. Je nachdem, wie unangenehm die Enthüllung des schönen Scheins wäre, werden dann viel Zeit und Mühe investiert, um das Geheimnis zu schützen. Und je mehr es zu verlieren gibt, desto größer ist der Wert des Geheimnisses.
Es ist sehr anstrengend, Gedanken an das geheime Leben im Alltag weitgehend zu unterdrücken, es aber trotzdem ständig im Kopf zu haben - und man zahlt einen Preis dafür. In einer seiner Studien fand Dan Wegner den sogenannten "Thought rebound"-Effekt. Zwar kann man demnach eine Zeit lang Gedanken und Gefühle an ein Geheimnis unterdrücken, doch sobald die angespannte Situation überstanden ist, kommt alles mit noch größerer Wucht zurück. Das kann schnell zu einem Kreislauf führen, in dem es immer anstrengender wird, das Geheimnis zu unterdrücken und die dazugehörigen Gedanken immer unwillkürlicher auftauchen. Bald, sagt Wegner, nimmt das Geheimnis einen so zentralen Platz im Kopf ein, dass sich alles nur noch darum dreht, den Schein aufrechtzuerhalten.
"Geheimnisse zu verstecken kann so viel Zeit, Wachsamkeit und Aufmerksamkeit fordern, dass sie beginnen, das ganze Leben zu dominieren, oder zum eigentlichen Leben der Person werden", sagt auch Psychiaterin Gail Saltz. Doch es ist nicht nur anstrengend, sondern auch nicht ungefährlich, so unter Hochspannung zu stehen, wie James Pennebaker von der University of Texas zeigen konnte. Er fand bei Probanden, die willentlich Gedanken an ein Geheimnis unterdrückten, eine höhere physiologische Aktivierung - ein Stressindikator, der dem Wissenschaftler zufolge auf Dauer auch gesundheitliche Konsequenzen haben kann.
Die meisten Geheimnisse drehen sich Wegner zufolge übrigens um Sex: uneheliche Kinder, geheime Liebschaften, ungewöhnliche Sexpraktiken. Auch nach der Einschätzung von Saltz rangieren Themen rund um Sex ganz oben auf der Liste der Doppelleben. Doch auch Drogenabhängigkeit findet sich dort häufig oder unkontrollierbare kriminelle Neigungen.
Aber natürlich sind nicht alle geheimen Existenzen gesellschaftlich auferlegt. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, spielte die bewusste Entscheidung zur Täuschung sicher eine Rolle beim Dokumentendiebstahl des Papstdieners. Ob Gabrieles Doppelrolle jedoch von Beginn an systematisch und in großem Stil geplant war oder sich aus einem zunächst einzigen Anlass ergab, das muss die Justiz nun noch klären.