Ein offenes Ohr für die Fragen der Kinder, klare Antworten und Respekt vor ihren Bedürfnissen - Experten geben Tipps, wie Eltern mit dem Thema umgehen sollten.
Hamburg. Das Thema sexueller Missbrauch ist durch Vorfälle an verschiedenen katholischen Einrichtungen und an Schulen in die Schlagzeilen geraten. Eltern sind oftmals unsicher, wie sie mit ihren Kindern darüber reden sollten, wie sie sie vor Missbrauch schützen können. Das Hamburger Abendblatt befragte Dr. Kerstin Stellermann, Oberärztin in der Sprechstunde Gewalt und Trauma in der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Universitätsklinikum Eppendorf und den Erziehungs- und Familienberater sowie Buchautor Dr. Jan-Uwe Rogge.
Ab welchem Alter kann man Kindern die derzeit laufende Berichterstattung zumuten?
Wenn Vierjährige im Radio oder Fernsehen etwas aufschnappen von der Diskussion um sexuellen Missbrauch, beginnen sie in der Regel, Fragen zu stellen. Darauf sollten Eltern eingehen und kurze klare Antworten geben, rät Stellermann, wie zum Beispiel: "Da haben Erwachsene Kindern wehgetan und jetzt kümmert sich die Polizei darum."
Bei einem vier- bis fünfjährigen Kind gelte es zunächst herauszufinden, was es wissen will, sagt Rogge. Dazu seien Rückfragen ein gutes Mittel. Wenn ein Kleinkind das Wort "Missbrauch" aufgeschnappt hat, fragt man es: "Was meinst du, was Missbrauch ist?" und lässt sich damit auf die Fantasie des Kindes ein.
Wann wird Sexualität ein Thema?
Fragen zur Sexualität keimten bei einigen Kindern bereits im Alter von drei bis vier Jahren auf. Sie sollten schon von klein auf sexuell aufgeklärt werden. "Das fängt damit an, dass sie lernen, Körperteile richtig zu benennen, unangenehme Empfindungen zu äußern und ein Gefühl für den eigenen Körper zu bekommen", sagt Dr. Stellermann. Wenn sie das gelernt haben, können sie eher ausdrücken, wenn sie Berührungen nicht wollen, und sich besser gegen Übergriffe zur Wehr setzen. Auch kleine Kinder haben das Recht zu sagen: "Ich möchte nicht bei dem Onkel auf dem Schoß sitzen."
Wie können Eltern ihre Kinder vor Missbrauch schützen?
Eltern sollten ihren Kindern sagen, dass sie mit ihnen darüber reden können, wenn sich für sie eine Berührung nicht gut anfühlt. Das geht schon im Kindergartenalter. Und man sollte ihnen beibringen, dass es gute und schlechte Geheimnisse gibt, rät Kerstin Stellermann. So sei die auf dem Dachboden versteckte Schokolade ein "gutes" Geheimnis, aber etwas, was den Kindern Angst macht und ihnen nachts den Schlaf raubt, ein "schlechtes", über das sie besser mit ihren Eltern reden sollten.
Hilfreich für kleine und größere Kinder ist das Vorlesen von Geschichten, die Kinder stärken: Geschichten über mutige Kinder oder darüber, wie sie ihre Gefühle benennen oder Alltagsprobleme lösen.
Welche Fehler können Erwachsene machen?
Ganz wichtig sei die sexuelle Selbstbestimmung des Kindes, betont Rogge. "Eltern oder andere Erwachsene sollten das Kind nicht anfassen, wenn es dies nicht möchte. Wenn es selbst Grenzen gesetzt hat, dass es zum Beispiel nicht betatscht werden will, dann ist dies zu respektieren."
Wie sollen sich Kinder verhalten, wenn sie bedrängt werden?
Das Kind wird mit seiner Körperhaltung zeigen: "Fass mich nicht an", es wird dies auch sagen. In der Regel hat dies die gewünschte Wirkung. Aber es bleibt ein Restrisiko, dass Erwachsene zunächst eine emotionale Beziehung zum Kind aufbauen, damit ein Abhängigkeitsverhältnis schaffen und dieses dann ausnutzen.
Fünf- bis Sechsjährigen kann man beibringen, dass sie laut schreien und auf sich aufmerksam machen sollen, wenn jemand sie bedrängt.
Welche Verhaltensauffälligkeiten deuten auf Missbrauch hin?
Früher ging man davon aus, dass es ein Warnzeichen sein könnte, wenn ein Kind mit seinen Genitalien spielt, so Rogge, aber diese Ansicht sei überholt. Generell sollten die Eltern die gesamte Persönlichkeit ihres Kindes sehen. Es sei falsch, einzelne Verhaltensweisen auf sexuellen Missbrauch zurückführen zu wollen.
Häufig zeigt das Kind nur allgemeine Anzeichen dafür, dass es Stress erlebt hat. Das kann sich zum Beispiel darin äußern, dass es plötzlich wieder einnässt, obwohl es schon trocken war. Weitere Anzeichen: ein Leistungsknick in der Schule, Albträume, Angst vor dem Einschlafen. Stellermann: "Hellhörig werden sollten Eltern, wenn ihr Kind sexuelle Verhaltensweisen an den Tag legt, die nicht alterstypisch sind, zum Beispiel wenn es andere Kinder nackt auszieht."
Was tun beim Verdacht, das Kind sei sexuell missbraucht worden?
Sie sollten sich an einen Experten wenden, bevor Sie das Kind darauf ansprechen, rät die Kinderpsychiaterin. Denn erstens betrachten die Kinder die Welt durch die Augen der Eltern und werden durch deren Sorge noch weiter beunruhigt. Zweitens sei es wichtig, dass die Aussagen des Kindes von einem Fachmann aufgenommen und dokumentiert werden.
Welche Spätfolgen sind denkbar?
Viele Kinder sind traumatisiert, sie machen dicht, wollen nicht reden. Erst eine öffentliche Diskussion bricht den Damm, und sie äußern sich. "Ich begrüße den Vorschlag, professionelle Missbrauchsbeauftragte etwa an Schulen einzusetzen. Sie können den Kindern helfen, sich zu öffnen", sagt Rogge. Besonders traumatisch sei es für missbrauchte Kinder, wenn die Umwelt das Problem verharmlost oder totschweigt. Es gibt zwei Typen von Folgewirkungen. Einige Betroffene versuchen, das Geschehene zu verdrängen. Die zweite Folge ist ein gestörtes Verhältnis zur eigenen Sexualität, etwa eine Unlust auf sexuelle Beziehungen oder die Ablehnung des eigenen Körpers. Letztere kann sich in einer Vielzahl von Krankheitsbildern äußern, darunter Mager- und Fettsucht oder Selbstverletzungen.