Vor dem Erdgipfel in Rio: Die großen Industriestaaten tun zu wenig für den Klimaschutz und gegen die Armut, beklagt Klaus Töpfer.

Hamburg. Vor 20 Jahren trafen sich Regierungsvertreter aus 172 Nationen in Rio de Janeiro, um gemeinsam einen nachhaltigen Entwicklungsweg einzuschlagen. Arme Länder sollten die Chance auf wirtschaftliche Entwicklung erhalten, aber diese so umwelt- und sozialverträglich wie möglich gestalten. Die Industriestaaten verpflichteten sich zu einem nachhaltigeren Wirtschafts- und Lebensstil. Nun will die Konferenz Rio +20 vom 20. bis 22. Juni am ursprünglichen Konferenzort weitere Fortschritte einleiten. Das Abendblatt sprach zum heutigen Weltumwelttag mit Prof. Klaus Töpfer, der 1992 als deutscher Umweltminister nach Rio de Janeiro gereist war und den kommenden Gipfel mit vorbereitet.

Hamburger Abendblatt: Der Erdgipfel war das größte diplomatische Zusammentreffen im 20. Jahrhundert. Was hat er in den vergangenen 20 Jahren erreicht?

Klaus Töpfer: Es ist gelungen, die Armut in der Welt zu verringern. Und das, obwohl heute etwa 1,4 Milliarden Menschen mehr auf der Erde leben als 1992. In China sind viele Menschen aus der Armut herausgewachsen; es gibt sicherlich auch Fortschritte in Lateinamerika. Das heißt nicht, dass wir das Ziel, die Zahl der unter der Armutsgrenze lebenden Menschen zu halbieren, erreicht haben. Nach wie vor müssen noch um eine Milliarde Menschen mit weniger als einem Dollar pro Tag leben, vor allem in Afrika und Teilen Südostasiens.

Welche Rolle spielt die Wirtschafts- und Finanzkrise beim Armutsproblem?

Töpfer: Diese Krise ist der Offenbarungseid des kurzfristigen Denkens. Die Gesellschaft, in der wir leben, leistet sich nach wie vor permanent den Luxus, Kosten ihres gegenwärtigen Wohlstands - seien es soziale, ökologische oder wirtschaftliche wie die Staatsschulden - auf die Zukunft abzuwälzen. Diesen Luxus bezahlen andere sehr bitter. Auch in den hoch entwickelten Ländern werden die Gräben zwischen Arm und Reich immer größer. Wir müssen alles daransetzen, diesen Trend umzukehren.

Wo liegen die größten Defizite?

Töpfer: Der Hunger in dieser Welt bleibt nach wie vor eine ganz skandalöse Realität und ist damit eine Herausforderung. Wir haben die absolute Zahl der Hungernden nicht verringert, nach wie vor sind es rund 900 Millionen Menschen. Ich bin Vizepräsident der Welthungerhilfe - wir sehen die schrecklichen Auswirkungen von Spekulation auf Nahrungsmittel. Die Bürger der Industriestaaten geben im Durchschnitt weniger als 20 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus. In den ärmsten der armen Länder liegt dieser Anteil über 75 Prozent. Dort sind leichte Preisschwankungen bereits ein Drama. Auch im Bereich der Wasserver- und Abwasserentsorgung haben wir großen Nachholbedarf. Wer wie ich einmal acht Jahre in Afrika gelebt hat, weiß, was es bedeutet, wenn es keine Toiletten gibt, wenn es noch nicht einmal im Ansatz sanitäre Einrichtungen gibt.

Thema Klimaschutz: Autobauer entwickeln Hybridmotoren, weil der Benzinpreis steigt, und nicht wegen der Warnungen von Klimaforschern. Reagiert der Markt effektiver als Hunderte Staatsvertreter auf Klimagipfeln?

Töpfer: Märkte entstehen dort, wo Knappheiten überwunden werden müssen. Solange wir keine Begrenzung für CO2-Emissionen vorgeben, kann die Marktwirtschaft nicht wirksam werden. Generell müssen wir uns fragen, inwieweit externe Kosten wie Schäden am Klima oder an der Umwelt dem Markt anzulasten sind oder fehlenden gesellschaftlichen Entscheidungen. Wenn wir die Rahmendaten - und damit die Knappheiten - vorgegeben haben, dann ist der Markt das sinnvollste Instrument, um technologische Entwicklungen im Wettbewerb voranzubringen. Der Staat muss handeln, damit Märkte entstehen können, die kreative Unternehmer zu ihrem Vorteil nutzen können.

Wie wichtig sind weltumspannende politische Abkommen im Vergleich zu nationalen oder regionalen Initiativen?

Töpfer: Auf globale, von allen mitgetragene Lösungen werden wir in dieser Welt sehr, sehr lange warten müssen. Die Interessenlagen innerhalb der Staatengemeinschaft sind extrem unterschiedlich. Vergleichen Sie mal die Interessen eines kleinen Inselstaates im Pazifik, der vom Untergang bedroht ist, mit denen einer westlichen Industrienation oder mit China. Es müssen die vorangehen, die in der Entwicklung neuer Energietechniken und höherer Energieeffizienz wirtschaftliche Chancen realisieren können. Nehmen Sie die Solarenergie: Natürlich war sie am Anfang extrem teuer. Inzwischen sind die Kosten sogar überraschend schnell gesunken, sodass auch die Förderung entsprechend zurückgeführt werden konnte. Diese Entwicklung geht weiter. Jetzt kommen Staaten in Afrika, Asien, Lateinamerika, die sich kapitalintensive Kraftwerke wirtschaftlich nicht leisten können, und fragen: Wann sind eigentlich die Kosten für Fotovoltaik durch eure Forschung und Entwicklung hinreichend gesunken, dass auch wir uns diese Solarenergie leisten können? Der Punkt, an dem sonnenreiche Entwicklungsländer in die Technik einsteigen können, ist fast erreicht. Dazu müsste die Kilowattstunde Solarstrom sicher unter zehn Eurocent kosten.

Der weltweite Artenschwund hat sich beschleunigt ...

Töpfer: Wir brauchen mehr Bewusstsein für das Thema. Die Menschen sind in den meisten Fällen nicht unmittelbar betroffen. Eine Bürgerinitiative gegen eine Umgehungsstraße ist schnell organisiert, eine Zivilgesellschaft, die sich für den Schutz der Hohen See außerhalb staatlicher Zuständigkeiten engagiert, sehr viel schwieriger. Wir brauchen sicherlich auch ökonomische Argumente, um den Schutz der biologischen Vielfalt voranzutreiben. Wenn Menschen von den genetischen Ressourcen der Natur etwas haben, dann schützen sie sie auch mehr.

Seit 1992 ist die Bedeutung der westlichen Industriestaaten geschrumpft, vor allem durch Chinas Aufstieg. Was bedeutet das für Rio +20?

Töpfer: Vor 20 Jahren waren wir an der Nahtstelle des Umbruchs dieser Welt von einer Bipolarität zu einer Globalisierung. Wir sahen die ideologischen Gräben überwunden und waren hoch motiviert, eine bessere Welt zu schaffen. Inzwischen sehen wir, dass diese neue Zeit verdammt viele alte Probleme und zusätzliche neue hat - die Euphorie hat deutlich abgenommen.

Was erhoffen Sie sich von der Revisionskonferenz Ende Juni in Rio de Janeiro?

Töpfer: 1992 hatten wir eine erfolgreiche Unterschrifts- und Deklarationskonferenz. Über die Umsetzung haben wir nicht verhandelt; wir dachten, sie würde den Deklarationen automatisch folgen. Zehn Jahre später, in Johannesburg, lag der Schwerpunkt auf der Umsetzung der Rio-Vereinbarungen. Auch dieser "Johannesburg Plan of Implementation" hat keineswegs den dringlich erforderlichen Aufbruch zum Handeln gebracht. Jetzt sollten wir uns auf einige besonders dringliche Ziele konzentrieren, auf den Meeresschutz und die Millenniumsziele der Vereinten Nationen zur Bekämpfung von Hunger und Armut sowie zum besseren Zugang zu Trinkwasser und Energie.

Wird der Gipfel ein Erfolg?

Töpfer: Es ist modisch, ein solches Treffen als Schwatzbude abzutun, bei der ohnehin nichts herauskommt. Ich bin nicht dieser Meinung. Es wird das herauskommen, was diejenigen, die hingehen, mit großem Engagement dort vertreten. Es wird hoffentlich ein Gipfel, zu dem viele Staatschefs reisen. Auch 1992 gab es im Vorfeld viele Unkenrufe, der Gipfel sei unnütz. Doch im letzten Moment sind doch noch alle gekommen, als sie merkten, dass das Ganze eine Eigendynamik gewonnen hatte. Ich hoffe, dass wir in Rio ein gutes Stück weiterkommen. Das ist notwendig für eine stabile Welt mit bald neun oder zehn Milliarden Menschen.

Am 5. Juni 1972 begann der erste Uno-Erdgipfel in Stockholm. Der Jahrestag wurde zum Weltumwelttag mit zahlreichen Aktivitäten in vielen Teilen der Erde unter der Regie des Umweltprogramms der Vereinten Nationen. In Deutschland wird der Tag seit 1976 offiziell begangen. Das diesjährige deutsche Motto: Gemeinsam in eine bessere Energiezukunft.