Mit einer Therapie können die Nager ihre Beine auch nach einer Lähmung wieder willentlich bewegen. Einsatz bei Menschen aber in weiter Ferne.
Washington. Es klingt fast wie ein Wunder, ist aber das Ergebnis der Wissenschaft: Gelähmte Ratten können mit Hilfe eines speziellen Rehabilitationsverfahrens wieder laufen lernen. Sie erlangen dabei die bewusste Kontrolle über ihre Bewegungen zurück und können mit Hilfe einer Halterung sogar rennen, Treppen steigen und Hindernisse umgehen. Dies berichten Wissenschafter aus der Schweiz im Fachmagazin „Science“. Sie planen, in ein bis zwei Jahren mit klinischen Studien zu beginnen, um herauszufinden, ob das Verfahren auch beim Menschen funktioniert.
Das Neuro-Rehabilitationsverfahren der Schweizer Forscher um Grégoire Courtine vom Swiss Federal Institute of Technology (EPFL) beruht unter anderem auf einer Stimulierung der „schlafenden“ Nervenzellen im Rückenmark. Wird das Rückenmark schwer verletzt oder vollständig durchtrennt, erhalten die Nervenzellen unter dem Einschnitt keine Informationen mehr aus dem Gehirn. Bei den Ratten waren aufgrund einer solchen Verletzung die Hinterbeine gelähmt. Die Wissenschaftler weckten die schlafenden Zellen nun sozusagen wieder auf. Und zwar mit einem Chemikalienmix, der die Nervenzellen ähnlich wie die Botenstoffe des Gehirns anregt, und elektrischer Stimulation.
+++Süß, sauber und verspielt: Die Ratte als Hundeersatz+++
+++Ratte Rémy sorgt im Schweinestall für Remmidemmi+++
Bereits vor drei Jahren hatten die Schweizer Forscher gezeigt, dass dank dieser Stimulierung gelähmte Ratten auf einem Laufband vorwärtsgehen können. Allerdings konnten die Tiere ihre Bewegungen nicht bewusst steuern, weil die Nervenverbindungen zwischen den Hinterbeinen und dem Gehirn getrennt blieben. Vielmehr gab das Laufband den Anstoß für die Bewegungen.
Die Forscher konstruierten nun einen robotergesteuerten Halteapparat, der die Ratten auf den Hinterbeinen hält und sie abfängt, sobald sie das Gleichgewicht verlieren. Die Ratten haben dadurch das Gefühl, eine gesunde Wirbelsäule zu besitzen, erklären die Forscher. Nach der chemisch-elektrischen Anregung der Nervenzellen ließen sie die Tiere gestützt von dem Geschirr ein Lauftraining absolvieren. Dabei lockten sie die Ratten mit einem Stückchen Schokolade.
Nach zwei bis drei Wochen Training machten die Ratten ihre ersten selbstständigen Schritte. Schon bald legten sie eine Strecke von 21 Metern in drei Minuten zurück, schreiben die Forscher. Sie trugen dabei ihr Körpergewicht allein und bewegten ihre Beine willentlich. Grundlage für den Erfolg ist, dass sich durch das spezielle, willensbasierte Training neue Nervenverbindungen im Rückenmark gebildet hatten. Diese wuchsen um die verletzten Bereiche herum und stellten so neue Verbindungen zwischen dem Gehirn und den Hinterbeinen her. Somit erlangten die Ratten die bewusste Kontrolle über ihre Beinbewegungen zurück.
„Rehabilitation ist die bislang einzige geprüfte Therapie nach Querschnittverletzung beim Menschen und führt zu wichtigen, jedoch deutlich begrenzten Verbesserungen“, sagte Jan Schwab von der Abteilung Experimentelle Neurologie an der Charité Berlin. So könnten bereits einige Patienten, bei denen das Rückenmark nicht vollständig durchtrennt ist, mit Hilfe von langwierigem Laufband-Training lernen, ihre Beine oder Arme zumindest wieder etwas zu bewegen. „Wir brauchen aber mehr.“
Der kombinierte Rehabilitationsansatz von Courtine sei ein wichtiger Schritt hin zur Entwicklung von modernen Therapien, ergänzte Schwab. Außerdem diene er dem verbessertem Verständnis der erstaunlich robusten Regenerationseffekte im stimulierten, verletzten Rückenmark. „Wir haben lange geglaubt, dass das Rückenmark sich nach Verletzungen nicht erholen kann.“ In jüngerer Zeit hätten einige Studien gezeigt, dass diese Annahme falsch gewesen sei.
Es sei ein „tolles Zeichen“ und klinisch sehr relevant, dass die Tiere eine willkürliche Kontrolle über die Bewegungssteuerung erlangt haben, sagte Dietmar Fischer von der Neurologischen Klinik der Universität Düsseldorf. Er betont jedoch, dass Studien an Ratten nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragbar seien, da zum Beispiel ihre Nervenfasern anders verliefen.