Der Hamburger Vulkanforscher ist in der Internationalen Raumstation ISS gelandet. Seine erste Aufgabe ist das Auswechseln eines Urinbehälters. Für Kinder will Deutschlands Mann im All zum „Maustronauten“ werden.
Baikonur. Der Raketenstart des deutschen Astronauten Alexander Gerst ins Weltall ist wie ein plötzlicher Sonnenaufgang – mitten in tiefer Nacht über der zentralasiatischen Steppe. Auf einem grellen Feuerschweif stemmt sich die Sojus aus der Rampe in den Himmel über Baikonur. Die gewaltige Schubkraft stößt den trägen Koloss immer höher Richtung Orbit. Erst jetzt walzt auf die zwei Kilometer entfernte Zuschauertribüne der Krach der Triebwerke heran, die in einem Feuersturm fast 300 Tonnen Treibstoff verbrennen. Schließlich wird die Sojus schneller und verschwindet als heller Punkt über Kasachstan – eine kleine Rauchwolke im Sternenlicht zurücklassend.
Bereits etwa acht Stunden später tritt Gerst seinen Dienst auf der Internationalen Raumstation ISS an – passend am Feiertag Himmelfahrt. Als nach der Ankunft der Sojus die Luken geöffnet werden, schwebt der Geophysiker mit seinen Kollegen Maxim Surajew aus Russland und Reid Wiseman aus den USA lachend herüber auf den Außenposten der Menschheit. Die Neuankömmlinge freuen sich über die Schwerelosigkeit – und über mehr Platz. „Die Sojus ist so unbequem wie zu dritt in einer Telefonzelle zu sein“, hatte Wiseman während des Trainings gesagt.
Nach der Ankunft auf der ISS meldete sich Gerst mit einer ersten Videokonferenz bei seiner Familie. „Der Flug war fantastisch“, sagte der 38-Jährige bei der Schalte aus 400 Kilometern Höhe zum kasachischen Weltraumbahnhof. „Ich kann es noch nicht glauben, es ist wie im Traum. Der Blick auf die Erde ist super.“
Gerst ist der elfte Deutsche im All und der dritte Deutsche auf der ISS. Während seiner rund 166 Tage langen Mission soll er zahlreiche Experimente betreuen und mindestens einmal zu einem Außeneinsatz ins All aussteigen. Dann trennt ihn nur ein dünner Raumanzug vom Kosmos. „Ich denke, dass es einen Menschen generell verändern muss, wenn er dort oben war“, sagt der Hamburger Vulkanforscher. Sein Anfang im All wird aber wenig pathetisch. „Raumfahrerrealität: Meine allererste Aufgabe an Bord der Station wird das Auswechseln des Urinbehälters der Toilette sein“, schreibt er in einem Internetblog.
Straffes Programm im All
Die Gelegenheit, den Blick auf die Erde in gut 400 Kilometern Höhe zu genießen, wird Gerst nur in seiner Freizeit haben. Denn das Programm ist eng. Der Forscher aus Künzelsau (Baden-Württemberg) soll unter anderem den Alterungsprozess der Haut beobachten, einen europäischen Raumtransporter einparken und Kinderfragen in der „Sendung mit der Maus“ beantworten. Dafür werde er gerne zum „Maustronauten“, sagt der Raumfahrer mit dem kahlgeschorenen Schädel. Auch sein Kinderwunsch sei schließlich Astronaut gewesen – und gehe jetzt in Erfüllung.
„Blue Dot“ (Blauer Punkt) hat Gerst seine Mission getauft. Das bezieht sich auf den US-Astrophysiker Carl Sagan, der die Erde aus dem Weltraum als „pale blue dot“ (blassblauen Punkt) bezeichnete. „Die Raumfahrt ermöglicht uns, die Erde aus einer anderen Perspektive zu sehen – letztendlich ist unser Planet nur eine Kugel aus Stein, ein kleiner blauer Punkt im All – mit uns als Passagieren. Insofern sind wir alle eigentlich Astronauten“, sagt Deutschlands Mann im All.
Der studierte Vulkanologe versteht seine Reise zu den Sternen durchaus als gesellschaftspolitische Mission. Inmitten der Ukraine-Krise wirbt er für mehr internationale Zusammenarbeit im Kosmos. „Wir fliegen als Mannschaft in den Weltraum, nicht als Vertreter einzelner Staaten“, unterstreicht er. Russland hatte zuletzt angekündigt, ab 2020 nicht mehr am ISS-Projekt mitarbeiten zu wollen – und damit auch bei der deutschen Raumfahrtlegende Sigmund Jähn bei einem Besuch in Baikonur Kopfschütteln ausgelöst.
„Wir haben hier drei Männer aus drei verschiedenen Staaten mit einem einzigen Ziel: Sie wollen gemeinsam in den Weltraum fliegen“, sagt Jähn, der 1978 von Baikonur aus als erster Deutscher ins All geflogen war. „Das aufs Spiel zu setzen, wäre das Dümmste, was passieren könnte, allein schon aus Gründen der Völkerverständigung“, meint der 77-Jährige, der zum Start von Gerst nach Kasachstan gekommen ist.
Nach der Ankunft der Sojus rasen nun sechs Menschen in der ISS um die Erde: drei Russen, zwei US-Amerikaner und Gerst. Zumindest über ein Thema wird die Besatzung sicher leidenschaftlich diskutieren – die Fußball-WM in Brasilien. Wiseman neckte Gerst bereits vor kurzem, als die USA Deutschland im Eishockey schlugen. Dieser blieb die Antwort nicht schuldig: „Gratuliere, aber warten wir den 26. Juni ab.“ Dann spielt Deutschland bei der WM gegen die USA – und Gerst dürfte die Lederkugel kurzzeitig mehr interessieren als der blassblaue Punkt.