Berlin. Die Diagnose von AD(H)S bleibt komplex und die Zahl das Betroffenen steigt rasant. Experten sagen, welche Gefahren das birgt.
AD(H)S – was vor einigen Jahren für viele noch ein unbekanntes Kürzel war, ist mittlerweile immer häufiger Gesprächsthema. Das zeigt auch die Zahl der AD(H)S-Diagnosen, die in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Laut einer Statistik der KKH Kaufmännische Krankenkasse hat sich die Zahl der ab 19-Jährigen mit einer ärztlich diagnostizierten ADHS von 2008 bis 2018 fast verdreifacht.
„Ich halte den Begriff ‚Diagnose‘ allerdings für irreführend“, sagt der Kinderpsychiater und AD(H)S-Experte Helmut Bonney im Interview mit unserer Redaktion. „Es gibt bis heute kein wissenschaftlich aussagekräftiges Instrument, um AD(H)S eindeutig zu diagnostizieren. Ich spreche lieber von ‚Klassifikationen‘. Aber auch diese Klassifikationen beruhen im Wesentlichen auf teils sehr flexiblen Rating-Instrumenten.“ Konkret bedeutet das: Bislang ist es nicht möglich, das mehrdimensionale Störungsbild AD(H)S durch Blutuntersuchungen, Hirnscans oder Röntgenuntersuchungen nachzuweisen.
ADHS-Diagnose: Verfahren hat sich deutlich verbessert
Wie Diagnosen aktuell gestellt werden, erklärt Thilo Palloks, Facharzt für Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie und Psychotherapie: „Es gibt seit 2017 klar festgelegte Leitlinien aller wichtigen Fachgruppen, nach denen AD(H)S diagnostiziert wird. Diese umfassen eine ausführliche Anamnese des oder der Betroffenen, die Auswertung von Schulzeugnissen, eine Fremdanamnese durch Eltern oder Lehrer sowie die Beantwortung verschiedener Fragebögen. Auch Intelligenz- und Konzentrationstests werden häufig ergänzend eingesetzt.“
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Darüber hinaus werden andere Erkrankungen ausgeschlossen beziehungsweise die Betroffenen auf Begleiterkrankungen untersucht. Diagnose und Behandlung übernehmen ausschließlich Spezialisten, etwa (Kinder-)Psychiater. „Das ist mittlerweile vorgeschrieben“, sagt Palloks. „Bis vor ein paar Jahren gab es noch häufiger Falsch-Positiv-Diagnosen, weil etwa auch Kinderärzte ohne spezielle Ausbildung für AD(H)S Diagnosen stellen durften. Das hat sich mittlerweile geändert.“
ADHS: „Ein Übermaß an Diagnosen“
Auch wenn Thilo Palloks die Präsenz des Themas AD(H)S in Gesellschaft und Medien grundsätzlich begrüßt, sieht er die inzwischen immer wieder zu beobachtende leichtfertige Identifikation vieler Menschen mit dem Thema Neurodiversität kritisch: „Ein Übermaß an AD(H)S-Diagnosen, insbesondere wenn sie von den vermeintlich Betroffenen selbst und nicht von Fachleuten gestellt werden, kann dazu führen, dass die Herausforderungen der tatsächlich von AD(H)S Betroffenen nicht angemessen wahrgenommen werden. Im schlimmsten Fall führt das zu einer Polarisierung der öffentlichen Meinung, was die Situation für die wirklich Betroffenen noch schwieriger macht.“
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Helmut Bonney hält die aktuelle Allgegenwärtigkeit des Themas ADHS und die vorschnelle Selbstidentifikation vieler Menschen aus einem weiteren Grund für problematisch: „Dieses Label AD(H)S klassifiziert Menschen als krank, es gibt ihnen unter Umständen einen Entwertungsstempel. Das kann persönliche, aber auch berufliche Konsequenzen haben. Man darf beispielsweise manche Jobs nicht mehr oder nur nach einer gründlichen Bewertung ausüben. Durch das Label AD(H)S können gesunde Menschen auch erst zu kranken Menschen werden.“
ADHS-Betroffene haben sehr individuelle Lösungsansätze
Menschen mit ADHS seien aber nicht krank. „Sie funktionieren einfach nicht so gut. In unserer ‚Kontrollgesellschaft‘ besteht ein großes Interesse daran, dass Menschen sich auf eine bestimmte Art und Weise verhalten. Weichen Menschen davon ab, wird schnell von Krankheit oder Störung gesprochen. Nur weil ein Medikament wie Ritalin eine Wirkung bei einem Menschen zeigt, heißt das nicht, dass der Mensch grundsätzlich krank ist.“
Bonney bestreitet jedoch nicht, dass die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung existiert: „Natürlich kann man nicht leugnen, dass es die im Zusammenhang mit AD(H)S geschilderten, teils schwerwiegenden Probleme gibt. Aber die Lösung ist nicht, betroffene Menschen durch Stimulanzien wie Ritalin ‚funktional‘ zu machen. Es braucht individuelle und maßgeschneiderte Lösungsstrategien, die den Menschen ganzheitlich betrachten.“ Nur so könne der Komplexität von AD(H)S auch Rechnung getragen werden.
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ADHS: Zu wenig geeignete Therapieansätze
„Wenn ich einen Stein an den Kopf bekomme und da eine Platzwunde habe, dann muss man das nähen. Man kann also das Problem direkt am Menschen lokalisieren und beheben. Mit diesem medizinischen Modell wird leider auch umgegangen, wenn es um Komplexitäten wie AD(H)S geht, die zu Abweichungen vom sogenannten ‚Normalen‘ führen“, so Bonney. Kinder und Erwachsene sollten aber die Möglichkeit haben, im Rahmen einer ganzheitlichen Behandlung zu lernen, ihre vorhandenen Ressourcen optimal zu nutzen und so den Leidensdruck im Alltag zu minimieren.
„Das Problem ist: Es gibt viel zu wenig geeignete Angebote für Betroffene, die Wartelisten sind voll. Zudem wurden solche ganzheitlichen Therapieansätze 2005 aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen gestrichen. Im Jahr 2024 wurden nun wieder erste Schritte unternommen, die systemische Therapie als Verfahren anzuerkennen und als Kassenleistung in die Gebührenordnung aufzunehmen. Aber wann das endgültig der Fall sein wird, ist offen“, sagt Bonney.
Er selbst praktiziere deshalb inzwischen in der Schweiz, wo ganzheitliche Ansätze wie Familientherapie und systemische Therapie in der Grundsicherung erfasst sind.