Hamburg. Franz Müntefering, einst Vizekanzler und SPD-Parteichef, plädiert für einen offeneren Umgang mit dem Tod.
Am Vorabend hat Franz Müntefering (76) noch langjährige SPD-Parteimitglieder in Nürnberg geehrt, nun ist er mit dem ICE 1082 am Hamburger Hauptbahnhof eingetroffen. Am Nachmittag wird er bei der Körber-Stiftung sprechen. Die Themen Älter werden und Pflege beschäftigen den einstigen Vizekanzler, Bundesminister und SPD-Parteichef so sehr, dass von einem Ruhestand keine Rede sein kann. Im Ehrenamt führt er als Präsident den Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) sowie als Vorsitzender die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGS), die die Interessen von 13 Millionen Senioren vertritt.
Mit dem Thema Pflege wurde der gebürtige Sauerländer auch sehr persönlich konfrontiert, 2007 hatte er seine politischen Ämter niedergelegt, um sich ganz um seine todkranke Frau Ankepetra zu kümmern. Im kommenden März wird der Sozialexperte in Trier mit dem Oswald-von-Nell-Breuning-Preis ausgezeichnet. Auf dem Weg zum Abendblatt-Termin im benachbarten Hotel Reichshof meidet Müntefering die Rolltreppe. Auch darüber wird es in dem Gespräch gehen.
Herr Müntefering, nur etwa 30 Prozent der Erwachsenen in Deutschland haben sich bislang um eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht gekümmert. Haben Sie für sich diese Dokumente verfasst?
Franz Müntefering: Ja, die liegen bei mir daheim in der Schatulle.
Haben Sie eine Erklärung dafür, warum so viele Menschen keine entsprechenden Vollmachten haben?
Müntefering: Mit dem Thema Sterben beschäftigen wir uns nur ungern. Viele denken, sie bleiben bis zum Ende ihrer Tage fit, munter und bei klarem Verstand. Dabei sagt uns ja der gesunde Menschenverstand, dass es ganz anders kommen kann. Und wir haben das Thema Sterben aus unserer Gesellschaft verbannt. In meiner sauerländischen Heimat haben wir früher die Trauer und das Weinen der Angehörigen unmittelbar miterlebt. Manchmal hörten wir sogar ihre Schreie. Und wenn Pferde den Wagen mit dem Sarg zum Friedhof zogen, hielten die Autos auf der Straße an. Heute findet das Sterben oft in Krankenhäusern und Pflegeheimen statt, außerhalb der Wohnungen. Viele Beerdigungen sind anonym oder doch unbemerkt.
Haben Sie Angst vor dem Sterben?
Müntefering: Je älter ich werde, umso weniger. Mit 30 oder 40 Jahren habe ich noch gehofft, dass ich später mal von der einen auf die andere Minute tot umfalle. Schlecht für die Angehörigen, gut für mich, dachte ich. Heute wünsche ich mir, dass ich rechtzeitig erkennen kann, wenn es aufs Ende zugeht. Ich will auch dieses Stück bewusst und mit denen erleben, die ich gern habe.
Aber Sterben kann auch große Qualen bedeuten.
Müntefering: Das stimmt. Aber es stimmt auch, dass das nur einen kleinen Teil der rund 870.000 Sterbenden im Jahr in Deutschland betrifft. Und dank Palliativmedizin können wir das Leiden Sterbender deutlich mindern. Wobei wir da noch besser werden müssen. Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) gibt es noch nicht überall.
Der Bundestag hat 2015 lange über das Thema Sterbehilfe diskutiert. Eine Abgeordneten-Gruppe wollte bei begrenzter Lebenserwartung den ärztlich begleiteten Suizid ermöglichen und scheiterte.
Müntefering: Ich bin froh, dass dieser Vorschlag keine Mehrheit gefunden hat. Bedeutet die Diagnose Eierstockkrebs eine begrenzte Lebenserwartung? Oder die Diagnose Demenz? Über welche Zeiträume reden wir? Drei Tage? Drei Monate? Drei Jahre? Sterben kann man nicht kategorisieren, jeder Fall liegt anders.
Trotzdem gibt es viele Menschen, die ihr Leben lieber beenden möchten, als in der letzten Phase ihrer Alzheimerkrankheit nicht einmal mehr ihre eigene Familie zu erkennen.
Müntefering: Ich habe mal einen Brief von einem Dutzend Unternehmern bekommen. Die haben mir geschrieben, dass sie beruflich immer alles entschieden hätten. Das müsse jetzt auch gelten, wenn sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr weiterleben möchten. Die Politik solle gefälligst Sterbehilfe legalisieren.
Was haben Sie geantwortet?
Müntefering: Ich glaube gar nicht. Suizidversuche in Deutschland sind ja auch nicht strafbar. Aber ich bin sehr froh, dass der Bundestag sich strikt gegen gewerbsmäßige Sterbehilfe ausgesprochen hat. Das Leben ist eine ballistische Kurve, die Kraft, die Leistungsfähigkeit lässt am Ende nach. Aber das Leben bleibt dennoch lebenswert.
Ihre Eltern sind beide 1985 gestorben. Wie haben Sie den Tod Ihrer Eltern erlebt?
Müntefering: Mein Vater starb mit 75 Jahren. Wir waren noch mittags bei ihm im Krankenhaus, am Abend ist er gestorben. Wir konnten uns nicht richtig verabschieden, was mich sehr traurig gemacht hat. Meine Mutter hat mir gesagt, dass sie gern daheim sterben möchte. Sie hatte mit ihren 80 Jahren schweres Rheuma und Zucker. Das habe ich ihr versprochen. Ich bin dann oft abends von Bonn, dem damaligen Regierungssitz, ins Sauerland zu ihr gefahren. Weihnachten hat sie sich noch als treue Katholikin den päpstlichen Segen im Fernsehen geholt, am 30. Dezember ist sie dann gestorben. Wir alle konnten uns von ihr verabschieden. Das war traurig – und doch kostbar.
Im Juli 2008 haben Sie Ihre Frau Ankepetra durch eine Krebskrankheit verloren. Sie sind im Oktober 2007 von Ihren Ämtern als Minister und Vizekanzler zurückgetreten, um sie zu pflegen. Das hat viele Menschen in Deutschland sehr bewegt.
Müntefering: Ich bitte um Verständnis, dass ich über diese Zeit nicht groß reden möchte.
Warum?
Müntefering: Mein Verhalten kann kein Maßstab sein. Sehen Sie, ich war damals 67 Jahre alt und finanziell abgesichert. Ich konnte mir das leisten. Für einen 45-jährigen Familienvater sieht das in einer vergleichbaren Situation ganz anders aus. Zudem hätte ich das allein niemals geschafft. Ich konnte nachts um halb zwei beim Palliativdienst anrufen und mir Rat holen. Und es kam auch jemand zu uns ins Haus, wenn es nötig war.
Viele pflegende Angehörige zerbrechen an ihrer Aufgabe.
Müntefering: Ich weiß. Die Gefahr ist groß, dass der Pflegende früher in die Knie geht als der Pflegebedürftige. Deshalb kann ich nur raten: Kümmert Euch, aber opfert Euch nicht auf! Damit ist niemanden gedient. Sucht Euch fachkundige Hilfe, in der letzten Phase auch durch palliative Dienste, wenn es erforderlich wird. Und es ist völlig in Ordnung, wenn man irgendwann entscheidet, dass es zu Hause nicht mehr geht. Dem Pflegebedürftigen und Sterbenden kommt es am Ende weniger darauf an, dass er seine Möbel und Bilder sieht, sondern dass seine liebsten Menschen bei ihm sind.
Pflegeheime geraten immer wieder durch Skandale in die Schlagzeilen. Macht Ihnen das keine Angst?
Müntefering: Nein, da handelt es sich um schlimme Ausnahmen, nicht um die Regel. In der weitaus überwiegenden Zahl der Heime leisten Pflegerinnen und Pfleger großartige Arbeit.
Aber es gibt schon jetzt viel zu wenig Personal. Kein Wunder, bei dem Gehalt.
Müntefering: Wenn in der Pflege und in den Kitas mehr Männer arbeiten würden, hätte sich das Problem mit dem gerechten Lohn längst erledigt. Da können Sie ganz sicher sein. Natürlich muss diese harte Arbeit besser entlohnt werden. Und selbstverständlich können wir uns das auch leisten.
Immerhin werden zum 1. Januar mit der Reform der Pflegeversicherung Leistungen aufgestockt, dies gilt vor allem für Demenzkranke. Sie waren Anfang der 1990er-Jahre als Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales in Nordrhein-Westfalen am Zustandekommen der Pflegeversicherung beteiligt. Wie konnte es passieren, dass Demenz damals so wenig berücksichtigt wurde?
Müntefering: Die Meinungen gingen auseinander, man hoffte wohl auch, dass Demenz bald beherrschbar sein würde. Sogar von einer Impfung gegen Demenz war damals die Rede. Fehler werden gemacht, auch in der Politik, und sie müssen korrigiert werden. Und das ist ja auch geschehen. Aber aus meiner Sicht läuft in der Diskussion über Älterwerden und die Pflege doch wieder etwas falsch.
Nämlich?
Müntefering: Wir denken Pflege zu sehr von der letzten Phase des Lebens. Wir müssen viel früher ansetzen. Die Experten sagen, dass Bewegung Demenz verzögert, vielleicht sogar vorbeugen kann. Doch wir sitzen und sitzen und sitzen. Bloß nicht bewegen. Unsere Vorfahren sind noch 30 Kilometer gewandert, um Nahrung zu finden. Wir setzen uns ins Auto, fahren anderthalb Kilometer zum nächsten Supermarkt und kaufen das Doppelte von der Kalorienzahl, die wir eigentlich bräuchten. Wir suchen Rolltreppen und Fahrstühlen, statt die Treppe zu nehmen. Sportvereinen müssen den Senioren mehr Bewegungsangebote machen. Das schützt auch vor dem schlimmsten Problem im Alter, der Einsamkeit. Viele alte Menschen sind sehr allein. Das ist nicht gut.
Nicht wirklich überraschend. Viele Familienverbände lösen sich auf, in einer Stadt wie Hamburg lebt jeder Zweite als Single.
Müntefering: Auch wenn die Generationen nicht mehr unter einem Dach leben, kann man sich doch besuchen oder telefonieren. Das funktioniert auch. Und Wandern, Joggen, Schwimmen kann man auch mit Bekannten oder Fremden, nicht nur mit Verwandten. Wir sind eine zeitreiche Gesellschaft, wir können uns kümmern um die, die jemanden zum Reden brauchen. Sei es in der Nachbarschaft oder im Ehrenamt.
Es ändert aber nichts daran, dass viele im Alter ihre Wohnung verlassen müssen, weil sie nicht behindertengerecht ist.
Müntefering: Deshalb rechtzeitig handeln. Badewanne raus, begehbare Dusche rein. Breite Türen. Und vor allem weg mit den Stolperfallen wie Teppichkanten.
Haben Sie Ihre Wohnung denn schon entsprechend umgebaut?
Müntefering: (lacht) Nein, natürlich nicht. Wir wohnen in einer Mietwohnung in Herne im ersten Stock, ohne Fahrstuhl. Andererseits sorgt das für Bewegung.
Viele junge Menschen sorgen sich, dass derzeit von der Politik Geschenke zulasten ihrer Generation gemacht werden. Etwa bei der Mütterrente.
Müntefering: Ich habe überhaupt nichts dagegen, dass Mütter für die Erziehung der Kinder, die vor 1992 geboren wurden, Kindererziehungszeiten angerechnet werden. Aber das darf man dann nicht aus der Rentenkasse bezahlt werden, sondern man muss dafür Steuern erhöhen, etwa die Vermögens- oder die Erbschaftssteuer.
Mit der Rente mit 63 hat Ihre Parteifreundin Andrea Nahles aus Sicht vieler Kritiker auch ein Geschenk gemacht.
Müntefering: Diese Regelung betrifft ja nur die, die mit 63 Jahren schon 45 Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt haben. Ich halte das Gesetz dennoch für einen Fehler. Es sendet das falsche Signal. Wir gehen später in den Beruf, leben länger, relativ gesund, also müssen wir länger aktiv sein, das können die meisten auch.
Sind wir auf dem Weg in die deutsche Altenrepublik? Werden die Sozialkassen zugunsten der Senioren ausgeplündert?
Müntefering: Quatsch. Der Bundestag ist jedenfalls im Schnitt nicht älter geworden. Zudem tun jetzt alle so, als würde die demografische Entwicklung immer so weitergehen. Das ist Unsinn. Irgendwann kommt die Generation der Babyboomer nach und nach in den Himmel, dann wird sich das wieder austarieren. Ich halte es für brandgefährlich, die Generationen gegeneinander auszuspielen. Wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen, müssen wir in Bildung, Ausbildung und Fortbildung investieren. Nur dann werden die Alten und die Jungen auch in 20, 30 Jahren gut leben können. In der Gerechtigkeitsfrage sollten wir lieber darüber diskutieren, warum so viele 20- bis 30-Jährige sich von Praktikum zu Praktikum hangeln oder nur schlecht bezahlte befristete Verträge haben. Denn das bedeutet auch geringere Einnahmen für die Rentenkasse und weniger Rentenanspruch.
Ist es für Sie Kompliment, wenn man Ihnen sagt, dass Sie jünger wirken als 76?
Müntefering: Nein, ich weiß ja, dass ich 76 bin. Und so fühle ich mich auch. Und das Gute ist ja, 76 zu sein und gut drauf und nicht sich jünger zu fühlen. Ich lebe gerne, Sterben hat noch Zeit.