Klassische Kinderkrankheiten wie Windpocken sind bei Vorschulkindern verbreitet - Sprachstörungen neuerdings auch.

Berlin. Sie stammeln und stottern, bekommen häufig keinen vollständigen Satz heraus oder finden nur schwer die richtigen Worte. So geht es etwa jedem dritten Kind im Vorschulalter, wie die größte deutsche Krankenkasse Barmer GEK ermittelte. Und die Probleme bei Jungen sind deutlich größer als bei Mädchen.

Fazit des am Dienstag veröffentlichten Reports, für den Daten der 8,3 Millionen eigenen Versicherten ausgewertet wurden: Psychosoziale Krankheitsbilder wie Sprachstörungen bei Vorschulkindern, aber auch Konzentrationsschwächen und Hauterkrankungen bei Kleinkindern sind auf dem Vormarsch. An mangelnder ärztlicher Betreuung liege das aber nicht. Für Barmer-GEK-Vizechef Rolf-Ulrich Schlenker lässt die Entwicklung aufhorchen. Sie sei aber kein Grund zur Beunruhigung: „Wir haben eine sehr gute Versorgung für Kinder in Deutschland.“

Laut Studie haben im sechsten Lebensjahr 38 Prozent der Jungen eine Sprechstörung, dagegen nur 30 Prozent der Mädchen. Während 20 Prozent aller fünfjährigen Jungen eine Logopädie-Verordnung zur Behandlung erhielten, waren es bei Mädchen 14 Prozent. Ob damit eine krankhafte Störung oder nur eine verzögerte Sprachentwicklung behandelt wird, ist wegen der schwer fassbaren Diagnose nach Aussage von Experten aber offen.

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„Wir sehen, dass professionelle Sprachförderung in Anspruch genommen wird“, sagt Schlenker. Guten Anklang finden auch regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen für Kinder: Die Termine werden im Durchschnitt zu über 90 Prozent wahrgenommen. Nur in Stadtstaaten wie Berlin oder Hamburg hinkt die Quote hinterher. Experten sehen einen Zusammenhang mit sozialer Schicht, Migrations- und Milieuproblemen der Eltern. Für Studien-Mitautor Friedrich Wilhelm Schwartz lässt sich dies nur vermuten; aus den Daten sei es nicht erkennbar.

Bundesweit haben laut Report 10,3 Prozent aller Kinder Sprech- und Sprachstörungen. Pro Jahr sind davon also etwa 1,12 Millionen Jungen und Mädchen zwischen 0 und 14 Jahren betroffen. Die Barmer GEK als Branchenprimus zahlt für Therapien bei Logopäden nach Worten Schlenkers jährlich rund 70 Millionen Euro. Auf alle Kassen hochgerechnet, komme so ein Betrag „von knapp unter einer Milliarde Euro“ zusammen.

Wie Sprachentwicklungsstörungen findet sich auch das Zappelphilipp- Syndrom, die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), überdurchschnittlich häufig bei Jungen: Jeder zehnte Neunjährige geht zum Neurologen oder Psychiater (9,6 Prozent), 60 Prozent davon mit der Diagnose ADHS. Zum Vergleich: Bei neunjährigen Mädchen sind es sechs Prozent, davon rund 40 Prozent mit ADHS-Diagnose.

Auffällig ist laut Studie auch, dass mehr als elf Prozent aller Kinder zwischen 0 und 14 Jahren unter der Hautkrankheit Neurodermitis leiden. Bei den Bis-3-Jährigen sind es sogar rund 16 Prozent. Besonders häufig sind ostdeutsche Kinder betroffen. Nach Einschätzung von Schwartz sind dafür wahrscheinlich Umweltbelastungen, aber auch psychologische Faktoren zumindest mitverantwortlich.

Die Kasse selbst will nicht ausschließen, dass es sich bei den neuen Diagnosen auch um „Modekrankheiten“ handeln könnte. Verstärkte Aufmerksamkeit von Eltern, Erziehern und Ärzten könnten mit den „auffällig hohen Diagnosen“ durchaus zu tun haben. „Und vermutlich treiben die begrüßenswert hohen Vorsorgeraten diese Diagnosen zusätzlich nach oben“, räumt Schlenker ein.

Und mutmaßt, dass Probleme mit der Sprachentwicklung auch auf ein immer früheres Schuleintrittsalter zurückzuführen sein könnten. In Baden-Württemberg, wo er herkomme, würden Kinder erst mit fast sieben Jahren und nicht wie etwa in Berlin schon mit fünfeinhalb eingeschult. Im „Schwabenländle“ seien Sprachstörungen bei Schulanfängern jedenfalls seltener, sagt Schlenker.