Die in Chicago gestartete Bewegung des “Urban Gardening“ ist in Hamburg angekommen. Auf St. Pauli gibt's die ersten mobilen Gemeinschaftsbeete - und jeder kann mitmachen
Mitten auf der Rampe zum Garagendach türmt sich ein riesiger Haufen frisch duftender schwarzer Erde. "Komm ruhig rauf", ruft ein junger Mann in verschwitztem Hemd, "aber rechts durch die Einfahrt vom Gruenspan und dann übern Hof!" Auf dem weiten Dach über der Tiefgarage zwischen St.-Pauli-Druckerei und dem Gruenspan Club sind rund 20 Menschen am Werk. Hier entsteht gerade Hamburgs bisher größtes mobiles Grünprojekt: das Gartendeck.
Eine Gruppe von Freiwilligen schaufelt die Erde auf Schubkarren und verfrachtet sie nach hinten, wo in langen Reihen schon "Beete" bereitstehen: Rote Industriekörbe, bekannt aus dem Supermarkt, und erdgefüllte Reistüten. Aus vielen ragen schon Blätter von Radieschen, Zwiebeln, Kräutern und Zucchini, aus Reistüten wachsen Kartoffelpflanzen und Mais. Zwei junge Frauen sind mit Gartenschlauch und Gießkanne dazwischen unterwegs und wässern.
Jeder Schritt federt. Um das Dach der Tiefgarage zu schützen, ist jeder der 1100 Quadratmeter mit Bautenschutzmatten aus recycelten Autoreifen bedeckt. "110 Rollen à 76 Kilogramm haben wir ausgelegt", sagt Claudia Plöchinger stolz. "Die Herstellerfirma hat gesagt: Zehn Mann brauchen dafür eine Woche. Wir haben es in zwei Tagen geschafft." Plöchinger ist die einzige, die gerade nicht pflanzt und schaufelt, weil sie ständig telefoniert, organisiert und Interviews gibt. Noch heute muss die Erde von der Rampe verschwinden, sagt sie, denn morgen kommt die nächste Fuhre. Seit Mittwoch ist das Gartendeck bereit für jeden, der mit anpacken will und keine Angst vor schmutzigen Händen hat. Dafür hat die Garten-Initiative seit Monaten gearbeitet.
Entstanden ist das Projekt als Teil des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel, dessen Kernthema "Gemeingüter" ist. Auch dieser mobile urbane Garten soll Gemeingut werden, eine frei zugängliche Ressource für alle, die Lust am Gärtnern in der Stadt, am selbst gezogenen Gemüse haben. Zusammen säen, jäten, gießen, Hochbeete zimmern und ernten schafft ein Gemeinschaftsgefühl, gerade in einem so dicht besiedelten und hybriden Stadtteil wie St. Pauli.
Claudia Plöchinger betreut das Projekt seit dem Frühjahr zusammen mit Alexander Mayer. Im Mai wurde angesät, in einem kleinen mobilen Gewächshaus, das vorübergehend im Pfarrhausgarten der St.-Pauli-Kirche stand. Als die Initiative von der städtischen Sprinkenhof-AG die Geländezusage für das Parkdeck in der Großen Freiheit bekam, zog das Gewächshaus um. "Die Pflanzkisten haben wir uns zusammengesammelt, die Reissäcke bekommt man günstig im Handel", sagt Plöchinger.
Immer mehr Freiwillige meldeten sich, inzwischen sind auch zwei ausgebildete Gärtner dabei: Frank Wünsche und Andreas Voss. "Manches muss man ja erst mal erklären", sagt er und lächelt nachsichtig. Nicht jeder Sämling gedeiht, wie er soll. Woran liegt's? An der Erde? Zu feucht? Ist die Pflanze krank? Garten-Neulinge haben viele Fragen. Zur Orientierung kleben an den meisten Pflanzkörben Schilder ("Möhren"). Sonst beginnt nach dem Keimen das große Rätselraten: Sind das hier jetzt Spinatschösslinge oder kleine Salatblätter? Raten kann ja auch schon gesellig sein. Für Einsteiger wird künftig einmal pro Woche eine Einführung in urbanes Gärtnern gegeben.
Johannes Berns ist freier Redakteur. Er wohnt quasi ums Eck in der Juliusstraße und ist nun fast jeden Tag dabei, erzählt er. Zusammen mit einem Freund bewirtschaftet er seit vier Jahren einen Schrebergarten in Bahrenfeld. Da konnten beide Erfahrungen sammeln, die sie hier einbringen. Und Einschlafprobleme hat der 40-Jährige nach einem Tag Gärtnern definitiv nicht, sagt er.
Dabei ist auch der Filmemacher Oliver Eckert mit seiner fünfjährigen Tochter Marta. Für ihn ist das Gartendeck ein "Urlaubszeitvertreib": "Das Arbeiten ist produktiv und positiv, und dann kommt am Ende auch noch was zu Essen dabei raus. Und die Nachbarschaft wächst", sagt er. Da macht es nichts, dass Martas schöne bunte Hosen abends braun sind.
Die Idee, großstädtische Brachflächen gemeinschaftlich zu bewirtschaften, gewinnt mittlerweile Anhänger in vielen Städten. Die erste City Farm als gemeinschaftlich betriebenes Anbauprojekt gründete der Recycling-Fachmann Ken Dunn 2002 in Chicago. Ziel war, die verfallenden Grundstücke der niedergehenden Industriestadt zu nutzen, die lokale Gemüseversorgung zu verbessern und dabei auch so etwas wie gärtnerische Sozialarbeit zu entwickeln. Weil auf kontaminierten Fabrikflächen kein Gemüseanbau ratsam ist, nahm Dunn eben Autoreifen oder Industriekörbe als Pflanzgefäße, mit denen er notfalls auf eine andere Fläche umziehen konnte. Heute hat die City Farm 850 freiwillige Mitarbeiter und beliefert lokale Märkte mit ökologischem Obst und Gemüse. In New York entstanden Community Gardens, in denen Anwohner Tomaten und Paprika ziehen.
Im Sommer 2009 begann in Berlin-Kreuzberg das Projekt "Prinzessinnengarten". Der Filmemacher Robert Shaw und der Klubbetreiber Marco Clausen befreiten zusammen mit Freunden eine 6000 Quadratmeter große Brachfläche am Moritzplatz vom Müll, bauten die ersten 100 mobilen Beete und gründeten die gemeinnützige GmbH Nomadisch Grün (die auch das Gartendeck in St. Pauli beraten hat). Inzwischen haben sie dort das erste Bienenvolk angesiedelt, mit Anwohnern 300 weitere Beete und einen Kartoffelacker angelegt, ein Gartencafe eröffnet und ihr Projekt 2011 auf der Expo in Shanghai vorgestellt. "Wir bauen unser Gemüse in Bio-Qualität an", sagt Clausen. "Wir benutzen keine chemischen Düngemittel oder Pestizide, die Pflanzbehälter stammen aus dem Lebensmittelbereich, Erde und Saatgut haben ein Bio-Zertifikat."
Bisher war Urban Farming in Hamburg ein noch zartes Pflänzchen. Jetzt ist die Idee angekommen - auch im Karolinenviertel. Am Ende der Grünfläche am Ölmühlenplatz hat eine Anwohnergruppe namens Die Keimzelle losgelegt: Auf Hochbeeten aus Euro-Paletten wachsen Radieschen, Zucchini, Tomaten, dazwischen stehen Kästen mit Minze, Reistüten mit Kartoffeln und Kohlrabi, und jede Menge Bohnen ranken ihre Stängel um provisorische Spaliere. "Ständig kommen Leute, die mitmachen wollen, Kinder stellen Sonnenblumen dazu", sagt ein Keimzellen-Aktivist. Unter den Mitgliedern sind Theater- und Sozialpädagogen, Techniker, Rentner, Künstler, Studenten und Medienberufler. Ihr Ziel ist, mit dem mobilen Garten auf den Parkplatz des früheren Real-Markts an der Feldstraße zu ziehen.
Die dort vom Bezirk geplante Konzerthalle stieß auf wenig Gegenliebe. In einer großen Anwohnerumfrage wünschte sich die Mehrheit der Befragten stattdessen Gärten, Parks, Grün. "Bei vielen Stadtbewohnern gibt es heute ein Umdenken hin zum Nutzgarten", sagt Harald Lemke, Sozialphilosoph, Kulturwissenschaftler und Keimzellen-Mitinitiator. "Ein Garten bedeutet mehr als Blumen angucken. All die Bewegungen für Urban Farming oder Guerilla Gardening, die wir heute haben, sprechen für das Bedürfnis, sich die Stadt anzueignen und selber mitzugestalten." Die Zukunft, sagt er, gehört dem urbanen Küchengarten.
Lemke hat sich intensiv mit dem Wandel der Ernährungskultur befasst. Lebensmittelskandale scheinen immer schneller aufeinander zu folgen, EHEC, Nahrungskrisen und Klimawandel die Öffentlichkeit zu verunsichern. Nicht nur in Afrika, sondern auch in den krisengebeutelten Industrienationen wachse die ökonomische Not.
"Gleichzeitig wächst aber auch die individuelle Lust, eigene Nahrungsmittel nach gesunden, ökologischen Methoden anzubauen", sagt Lemke. Er erinnert an den Künstler Joseph Beuys, der als Erster das moralische Recht auf Gärten in der Stadt einforderte: Beuys vergrub im März 1977 in einer Aktion eine runzlige Kartoffel im Garten seines Berliner Galeristen. Am Ende der Documenta 6 im Herbst desselben Jahres erntete er die Früchte seiner Arbeit als "elementares Bild unangepassten Überlebens", sagt Lemke. "Mit Beuys begann der Kampf um eine urbane Agrikultur."
Wenn immer mehr Stadtbewohner Brachen rekultivieren, Grünflächen einhegen und Gemeinschaftsgärten anlegen, wird das Auswirkungen haben: auf die Stadtplanung und die bisherige Verwaltung städtischen Grüns. Aus den Schrebergärten, die die Stadtväter vor 100 Jahren zur Selbstversorgung zur Verfügung stellten, sind heute private Rückzugsräume geworden. In der Urban-Gardening-Bewegung zeigt sich hingegen ein neues, anderes Bedürfnis der Bürger: Sie wollen Grün in der Stadt nicht von oben zugeteilt bekommen, sondern selbst mitentscheiden, wo, für welchen Zweck und in welcher Gemeinschaft dieses Grün genutzt wird. "Was wir hier machen, ist Schrebergarten 2.0", sagt ein Keimzelle-Mitglied.
Die Münchner Soziologin Christa Müller forscht seit Jahren über nachhaltige Lebensstile und neue Wohlstandsmodelle. Während die Schrebergarten-Bewegung vor allem von der Arbeiterschaft getragen wurde, ist es in Müllers Augen heute gerade "eine junge urbane Avantgarde", die mit Zukunftsthemen experimentiert, "mit neuen Wohlstandsmodellen, Stadtökologie, Gemeinschaftsprojekten, interkultureller Begegnung und sinnvoller Beschäftigung". Zum Trend "Zurück zur Natur auch in der Stadt" komme der Trend zum Selbermachen, sagt Müller in einem Interview. "Man will einen urbanen Lebensstil, aber weder auf den Konsum reduziert sein noch auf Natur verzichten. Zum Lebensstil gehören auch neue gemeinschaftliche Erfahrungen und eine postmoderne Ethik: Lebensmittel sollen das Leben bereichern und die Lebensqualität erhöhen - aber nicht die Ausbeutung von Menschen und Tieren."
Inzwischen haben sich die Regenwolken über dem Gartendeck an der Großen Freiheit verzogen, eine schüchterne Abendsonne beleuchtet die Erdarbeiten. "Huch", schreit jemand und zieht gerade noch rechtzeitig den Schlauch aus einer voll gelaufenen Wassertonne. Das Gartendeck verfügt über einen eigenen Anschluss.
Mit der Sprinkenhof-AG gibt es eine Nutzungsvereinbarung - gegen eine Verwaltungsgebühr -, die bis Ende November dauert. Aber vorher wird natürlich geerntet, gemeinsam gekocht und mit allen Stadtgärtnerinnen und -gärtnern gefeiert. Wie immer auf St. Pauli.