Es ist das Interview des Sportvermarkters und ehemaligen Volleyball-Nationalspielers Frank Mackerodt im Abendblatt, das Ende 2000 mehrere Anrufe in der Sportredaktion auslöst. Mackerodt hat in dem Gespräch eine Olympiabewerbung Hamburgs für die Sommerspiele 2012 gefordert, um die Stadt im Sport und Tourismus besser zu positionieren. Zu diesem Zeitpunkt haben Stuttgart, Frankfurt/Main, Düsseldorf und Leipzig ihre Kampagnen gestartet, Hamburg hält sich noch hanseatisch vornehm zurück. „Und das aus gutem Grund“, sagt Hans-Jürgen Schulke, damals Direktor des Sportamtes der Stadt. Der promovierte Sportsoziologe ist einer der Anrufer und bittet am Telefon um einen Termin mit der Redaktion, um die Causa Olympia „mal in Ruhe besprechen“ zu können.
Einige Wochen danach, es ist kurz vor Weihnachten, kommt es zu dieser Unterredung. Er habe für eine Hamburger Olympiabewerbung Pläne in der Schublade, erzählt Schulke bei einem gemischten Salat und einer Flasche Mineralwasser. Er will jedoch erst die Vergabe der Sommerspiele 2008 durch das Internationale Olympische Komitee (IOC) im Juli 2001 abwarten. „Wenn eine europäische Stadt den Zuschlag erhält, macht eine deutsche Bewerbung vier Jahre später wenig Sinn. Deshalb üben wir uns zunächst einmal in Geduld“, sagt Schulke. „Wenn aber Peking zum Zuge kommt, und die Chinesen sind der Favorit, werde ich im Senat für eine Hamburger Bewerbung werben. Sie können mich dabei unterstützen.“
Es folgen in den nächsten Monaten weitere Hintergrundgespräche, immer inoffiziell, stets vertraulich. Das Abendblatt hält sich an Schulkes Strategie, dem Thema in der Zeitung vorerst kein großes Gewicht zu geben, um die Geschichte nicht zu beenden, bevor sie angefangen hat. Das fällt uns leicht, weil parallel laufende Recherchen in Politik, Wirtschaft und Sport zu keinem Ergebnis führen. Es gibt schlicht wenig bis nichts zu vermelden. Olympia steht in der Stadt im Frühjahr 2001 offenbar nicht auf der Tagesordnung.
Dann kommt der 13. Juli 2001. Wie erwartet wird Peking zur Olympiastadt gekürt. „Jetzt können wir loslegen“, sagt Schulke. Am nächsten Tag titelt das Abendblatt: „Olympische Spiele 2008 in Peking – und 2012 in Hamburg?“ Fortan beherrscht das Thema in unserer Zeitung die Sport-, später die Lokalseiten und immer häufiger die Seite eins. Ende Oktober 2001 entschließt sich der Senat zur Kandidatur.
Im Rückblick sagt Schulke: „Das Abendblatt hat als erstes Medium der Stadt die Dimension dieses Themas für die Entwicklung Hamburgs erkannt und ihm die entsprechende Bedeutung über den Sportteil hinaus gegeben. Das hat geholfen, die Olympiabewerbung beim Senat und bei der Handelskammer voranzubringen.“ Im Senat und in der Handelskammer sind im Sommer 2001 noch die Olympiaskeptiker in der Überzahl. Das wird sich bald ändern, „auch dank der Berichterstattung im Abendblatt“, sagt Schulke, „weil dort immer wieder die Bedeutung Olympias für die Stadtentwicklung und den Tourismus beschrieben wird“.
Der nicht ganz zufällige Zufall will es, dass der Hörfunksender NDR 90,3 und das Abendblatt für Sonntag, den 15.Juli, zwei Tage nach dem Votum für Peking, im Hammer Park während des dortigen Leichtathletik-Sportfestes eines der gemeinsamen „Sportforen“ angesetzt haben. Gäste der Livesendung aus dem Stadion sind Hamburgs damaliger Innen- und Sportsenator Olaf Scholz (SPD), Klaus-Jürgen Dankert, Präsident des Hamburger Sportbundes (HSB), Handelskammer-Geschäftsführer Gerald Wogatzki, Rainer Blankenfeld, Veranstalter des Leichtathletik-Meetings, und Mackerodt. Die fünf sind zu einer Diskussion über Hamburger Spitzensport eingeladen. Geredet wird fast ausschließlich über Hamburgs mögliche Olympiabewerbung.
Scholz hat am Vormittag Schulke auf den Abendblatt-Artikel vom Wochenende angesprochen. „Glauben Sie wirklich, wir sollen es jetzt wagen?“, fragt der Senator, der seit Längerem von Schulkes Überlegungen weiß. Schulkes Antwort ist eindeutig: „Lassen Sie uns die Sache anpacken. Das ist ein positives Thema, damit können Sie politisch punkten und einen Kontrapunkt zu den Diskussionen um die Drogenszene am Hauptbahnhof setzen.“
Am Nachmittag im Hammer Park lässt Scholz keine Tendenz erkennen, wie seine Entscheidung ausfallen wird. Er träume zwar von Olympischen Spielen in Hamburg, sagt er, im Augenblick will er aber keine konkrete Aussage machen. Das hat seinen Grund. Bürgermeister Ortwin Runde hat andere Pläne. Runde fühlt sich den Bürgern Wilhelmsburgs verpflichtet, denen er sein Engagement für die Internationale Gartenschau versprochen hat. Man sollte sich „nicht verzetteln“, meint Runde. Gleichwohl werde er Gespräche zu Olympia mit Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern suchen, kündigt er im Abendblatt an. „Die Internationale Gartenausstellung 2013 hat bei mir absolute Priorität. Ich bin bei den Wilhelmsburgern im Wort“, betont der Bürgermeister. Wenn man nicht beide Veranstaltungen nach Hamburg holen kann, müsse das Sportereignis zurückstehen.
Auch der spätere Bürgermeister Ole von Beust (CDU) kann sich zu dem Zeitpunkt nicht für den Gedanken Olympischer Spiele in Hamburg erwärmen. Er präferiert Leipzig als Kandidaten. So wird es knapp zwei Jahre später bei der Abstimmung des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) im April 2003 in München auch kommen, wenngleich von Beust als Regierungschef seine Meinung ändert und Hamburgs Bewerbung forciert. Für Hamburgs Scheitern, trotz des mit Abstand besten Konzeptes, gibt es bis heute viele Theorien. Die überzeugendste ist wohl, dass der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) Leipzig favorisierte und wahrscheinlich entsprechenden Einfluss auf das NOK nehmen ließ.
Olympia in Hamburg ist nach der Niederlage von 2003 ein ständiges Thema im Abendblatt geblieben. Das Interesse an einer erneuten Bewerbung ist am ausgeprägtesten in der Wirtschaft zu spüren, aber auch die Rathaus-Parteien haben die Spiele wieder auf die Agenda gesetzt. Die Kampagne von 2001–2003 hat Spuren in der Stadt hinterlassen. Der Sport wird gesellschaftsfähig, die mit sechs Millionen Euro von Stadt und Handelskammer ausgestattete Stiftung Leistungssport entsteht, der Dulsberger Olympiastützung Hamburg/Schleswig-Holstein wird mit rund 20 Millionen Euro modernisiert. Das Abendblatt kann seine Idee einer Sportgala umsetzen. Sie findet mit Unterstützung der Stadt und der Wirtschaft seit 2006 in der Handelskammer statt. Der SPD-Senat entwickelt das Strategiepapier „Dekadenstrategie Sport“ 2011. Immer mehr Spitzensportler kommen in die Stadt, die Verbände haben Hamburg als Veranstaltungsstandort entdeckt.
„Ohne die Olympiabewerbung hätte der Sport in der Stadt bei Weitem nicht die Bedeutung erlangt, die er heute hat“, sagt Schulke.