Für den Fotografen und Foto-Sammler F. C. Gundlach war es ein besonders arbeitsreiches Jahr. "Ich habe das Gefühl, dass die Tage immer kürzer und gleichzeitig immer voller werden", hatte er im Abendblatt-Interview anlässlich seines 85. Geburtstags im Sommer gesagt. Kein Wunder, angesichts mehrerer kleiner und acht großer Ausstellungen, die Gundlach in diesem Jahr unter anderem in München, Beirut, Berlin, Moskau, Lissabon und Amsterdam mit eigenen Werken oder aber mit Fotografien aus seiner Sammlung gezeigt hat.
Zum vierten Mal in Folge kam er Mitte Dezember in die Abendblatt-Redaktion, um seine zwölf "Bilder des Jahres" auszuwählen, diesmal ergänzt um ein Titelmotiv. Wie in den Vorjahren ging es wieder darum, aus der Flut der Fotos, die täglich in aller Welt entstehen, Motive zu finden, die mehr sind als Dokumente eines Augenblicks: Bilder, die ein Ereignis dokumentieren, zugleich aber über dieses hinausweisen, indem sie ein oft vielschichtiges und kompliziertes Geschehen so verdichten, dass aus dem Bild ein Sinn-Bild wird. Es sei eine fast unmögliche Aufgabe, mit nur zwölf Fotos das ganze Jahr auf einen visuellen Nenner zu bringen, meinte Gundlach, der dennoch wieder bereit war, genau das zu versuchen.
Und 2011, meinte er, sei es noch schwieriger als in den vorangegangenen Jahren. "Oft waren Kriegsbilder dominierend, im vergangenen Jahr gab es stattdessen eine auffällige Häufung von Naturkatastrophen, doch das, was 2011 wohl am meisten bestimmt hat, dürfte die weltweite Finanzkrise sein. Und die lässt sich nur schwer in Bilder fassen", sagt Gundlach. Anders als lokale oder regionale Ereignisse sei die Finanzkrise eine Ereigniskette und eine Entwicklung, die von New York bis Hamburg, von Peking bis Kairo und von Moskau bis Athen die ganze Welt betrifft, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Auswirkungen.
Auf dem großen Tisch eines Konferenzraums breitete Abendblatt-Foto-Chef Mark Sandten etwa 80 besonders eindrucksvolle Motive aus, die die Mitarbeiter der Fotoredaktion in den vorangegangenen Tagen ausgewählt hatten. "Von den international tätigen Agenturen gehen bei uns täglich mehr als 8000 Bilder ein, die alle gesichtet und nach ihrer Relevanz bewertet werden müssen. Einige sind von so hoher Qualität, dass sie von vornherein für unsere Auswahl am Jahresende infrage kommen. Bei anderen stellt sich das erst später heraus", erklärte Sandten, der die Bilder zu thematischen Blöcken geordnet hatte: Natürlich ging es um Fukushima, den Arabischen Frühling, aber auch um den Fall des ehemaligen IWF-Chefs Dominique Strauss-Kahn, die Plagiatsaffäre des früheren Bundesverteidigungsministers zu Guttenberg. Es gab zahlreiche Motive von den Kriegen in Afghanistan und in Libyen, von Protesten in Athen und auf der Wall Street. Es ging um das Attentat von Oslo und der bisher kaum bekannten Insel Utøya, deren Name jetzt überall auf der Welt geläufig ist. Aber auch um große Sportereignisse wie den Weltmeistertitel, den der deutsche Formel-1-Fahrer Sebastian Vettel zum zweiten Mal in Folge erringen konnte.
Schließlich lässt sich Gundlach einen Cappuccino reichen und betrachtet die Vorauswahl eine ganze Weile schweigend, dann beginnt er damit, Bilder auszusondern. Was durch sein Raster fällt, wird erst einmal umgedreht. Gleich am Anfang kommt es zu einer merkwürdigen Diskrepanz zwischen der Relevanz des Ereignisses und der Tragfähigkeit der jeweiligen Motive.
Beispiel Karl-Theodor zu Guttenberg: Die Affäre hat nicht nur die Bundespolitik, sie hat die deutsche Gesellschaft insgesamt beschäftigt. Aber die Fotos sind nicht stark genug, zeigen immer nur einzelne Aspekte - sie werden umgedreht.
Schwierig wird es auch beim Arabischen Frühling. Es gibt unzählige, oft auch eindrucksvolle Bilder, die trotzdem vor Gundlach nicht bestehen können. Schließlich entscheidet er sich für ein symbolträchtiges Foto vom Kairoer Tahrir-Platz - unser Titel-Foto.
Lange schwankt er auch, bis er jenes Bild gefunden hat, das seiner Meinung nach den weltweiten Protest gegen die Macht der Banken und des Finanzsektors am stärksten zum Ausdruck bringt. "Ein schwieriges Jahr", meint F. C. Gundlach, der nach zweieinhalb Stunden dennoch seine "Bilder des Jahres" gefunden hat.