Berlin. Hohe Energiepreise könnten zu hunderttausenden Strom- und Gassperren führen. Experten erklären, wie diese abgewendet werden können
Kein Licht und kein warmes Wasser in der Wohnung, der Kühlschrank, die Waschmaschine und der Herd gehen nicht – und im Winter bleibt die Heizung kalt: Wem Strom oder Gas abgestellt wird, kann eine normale Lebensführung vergessen. Doch genau dies droht Hunderttausenden Haushalten in Deutschland wegen der explodierenden Energiepreise – wenn sie nicht vorbeugen und nicht wissen, wie sie eine Strom- und Gassperre verhindern können.
„Wir erleben derzeit dramatisch, dass immer mehr Menschen keine Chance haben, finanziell auf einen grünen Zweig zu kommen“, sagt Roman Schlag von der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV), der die Caritas, die Diakonie sowie weitere Sozial- und Verbraucherverbände angehören. Sein Rat: „Wer Schwierigkeiten hat, seine Rechnungen zu bezahlen, sollte die absolute Priorität auf die Miete, den Strom und das Gas legen. Eine Energiesperre gilt es, unbedingt zu vermeiden.“
Laut der Bundesnetzagentur haben die Versorger 2020 rund 230.000 Stromsperren und 24.000 Gassperren verhängt. Es gab auch schon Jahre mit insgesamt fast 400.000 Sperrungen. Nach einer Stichprobe der Verbraucherzentralen Berlin, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz waren bislang hauptsächlich Familien mit Kindern und Alleinerziehende gefährdet, vor allem wenn sie mit Strom die Wohnung heizten.
Das könnte sich nun ändern. „Wir erwarten eine Welle an Sperrungen und Verschuldungen aufgrund der hohen Energiepreise. Das wird bis in mittlere Einkommensschichten hineingehen“, warnt etwa Antje Kahlheber, Expertin der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz.
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Strom- und Gassperre: Wann wird die Energie abgeklemmt?
Seit Dezember 2021 gelten neue Gas- und Stromverordnungen. Demnach kann der Energieversorger eine Sperre dann vornehmen, wenn der Kunde sich mit mindestens 100 Euro im Zahlungsrückstand befindet und der geschuldete Betrag doppelt so hoch wie der vereinbarte Monatsabschlag ist – eine Summe, die schnell zusammenkommt.
Eine Verbesserung für Betroffene ist: Die Versorger sind jetzt verpflichtet, dem säumigen Kunden die Sperre vier Wochen zuvor anzukündigen. Gleichzeitig muss er ihm eine sogenannte Abwendungsvereinbarung anbieten, die Ratenzahlungen und eine Weiterbelieferung mit Energie auf Vorauszahlungsbasis (Prepaidsystem) vorsieht. Acht Tage vor der endgültigen Sperrung ist der Kunde erneut über die Maßnahme zu informieren.
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Kommt es am Tag X schließlich zur Sperre, kostet das Geld, ebenso wie eine mögliche spätere Entsperrung. Dafür muss der Verbraucher selbst aufkommen. Die Bestimmungen gelten laut der Bundesnetzagentur für die Grundversorgung und identisch oder ähnlich auch für Sonderverträge. Zur Sicherheit sollte in den allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) nachgesehen werden.
Zahlen in Raten: Wie ich die Sperre verhindern kann
Dazu muss der Kunde der vorgeschlagenen Ratenvereinbarung zustimmen. Darin wird festgelegt, in welcher Zeitspanne er seine Schulden mit zinsfreien Raten abstottern muss. Rechtlich möglich sind 6 bis 18 Monate, wobei die Laufzeit für Versorger und Verbraucher „wirtschaftlich tragbar“ sein muss. „Der Kunde sollte alles daransetzen, die Raten auf ein bezahlbares Niveau zu bringen“, rät Antje Kahlheber. Sie nennt als Beispiel: „Sieht der Versorger eine Ratenvereinbarung über nur sechs Monate vor, sollte gefragt werden, weshalb nicht auch längere Laufzeiten für ihn wirtschaftlich tragbar sind.“
Auf jeden Fall hilfreich ist, sich Unterstützung für die Verhandlungen zu holen. „Die Betroffenen sollten sofort nach Erhalt des Androhungsschreibens aktiv werden und sich Hilfe suchen, etwa bei einer Schuldnerberatungsstelle oder Verbraucherzentrale“, empfiehlt AG-SBV-Experte Schlag. Sein Tipp: Wer darauf hinweist, dass es um eine Energiesperre geht, erhält oft kurzfristiger einen Termin.
Wichtig zu wissen ist: Die Raten müssen zusätzlich zu den laufenden Abschlagszahlungen aufgebracht werden. Fehlt das Geld dafür, springt unter Umständen das Jobcenter oder das Sozialamt mit einem Darlehen ein. „Das sollte man auf jeden Fall probieren“, rät Verbraucherschützerin Kahlheber. Überlegt werden sollte auch, ein Arbeitgeberdarlehen aufzunehmen. „Das will nicht jeder. Es gibt aber Arbeitsverhältnisse, da ist die Beziehung zum Arbeitgeber so gut, dass ein Darlehen gar kein Problem ist“, so die Expertin.
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Wann ein Lieferstopp verboten ist
Nach den neuen Verordnungen können Betroffene die Sperre verhindern, wenn „Gefahr für Leib und Leben“ besteht und der Lieferstopp daher unverhältnismäßig wäre. Allerdings hat der Gesetzgeber nicht näher bestimmt, wann „Leib und Leben“ gefährdet sind. Das heißt: Wer sich auf die Regelung berufen will, sollte dem Versorger seine familiäre Situation schriftlich darlegen und begründen, weshalb Strom und Gas unverzichtbar sind.
Verbraucherschützerin Kahlheber nennt Beispiele: „Babys müssen warm gewaschen werden können und benötigen warme Babynahrung. In anderen Familien ist es nötig, Medikamente im Kühlschrank zu kühlen. Oder es gibt eine pflegebedürftige, behinderte oder hochschwangere Person im Haushalt.“ Wird eine Krankheit als Grund angeführt, sollte möglichst ein ärztliches Attest vorgelegt werden. Aber Achtung: Von seinen Schulden runter kommt der Kunde dadurch nicht. „Dauerhaft verzichtet der Versorger nicht auf die Rückzahlung – das muss er auch nicht“, erläutert Kahlheber.