München. Statt Bildchen oder Schokolade steckt in Adventskalendern heute oft Spielzeug oder Parfüm. Woher kommt der Brauch mit den 24 Türchen?
Millionen Menschen werden am Mittwoch, dem 1. Dezember, mit Vorfreude auf Weihnachten das erste Türchen ihres Adventskalenders öffnen – und dahinter längst nicht mehr nur Schokolade finden. Die Volkskundlerin Esther Gajek erklärt, woher die Erfindung stammt, warum es 24 Türchen gibt und weshalb die Produkte auch ein Spiegel ihrer Zeit sind.
Frau Gajek, was haben Kreidestriche, Strohhalme oder auch Kerzen mit Adventskalendern zu tun?
Esther Gajek: Jede Menge. So verkürzten früher manche Familien die Wartezeit bis zum Weihnachtsfest. Jeden Tag wurde eine Kreidemarkierung an der Wand weggewischt, ein Strohhalm in eine kleine Krippe gelegt, ein buntes Bild aufgehängt oder eine Kerze ein Stück weit abgebrannt. Es ging immer darum, Zeit sichtbar, begreifbar zu machen.
Woher kommt diese Tradition?
Gajek: Adventskalender gibt es erst seit etwa 1850. Sie stammen eher aus dem protestantischen Umfeld und tauchten zu einer Zeit auf, als neben der religiösen Bedeutung des Weihnachtsfestes in den bürgerlichen Häusern immer mehr die Bescherung mit Geschenken in den Mittelpunkt des Heiligen Abends rückte. Damals setzte auch eine Art „Entdeckung der Kinder“ ein, sie wurden nun weniger wie kleine Erwachsene behandelt. Familie wurde von einer nüchternen Zweckgemeinschaft zu einem Wert. Die Spielzeugindustrie wuchs stark an. Adventskalender sind von Anfang an auch Symbole für die Profanierung des Weihnachtsfestes, also die Bewegung weg von der christlichen Bedeutung. Es geht um Mini-Bescherungen, die den Weg zur großen Bescherung strukturieren und verkürzen.
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Die religiöse Bedeutung ist also verschwunden?
Gajek: Über die Jahrzehnte hin immer mehr, ja. Das vorbereitete Hinführen auf einen Höhepunkt bezieht sich mehr auf das Steigern der Spannung zu den Geschenken hin. Das sieht man auch, wenn man die Motive der Kalender ansieht, vor allem im 20. Jahrhundert: harmonische Winterlandschaften, idyllisiertes Familienleben, heimelige Dörfer, Plätzchenbacken. Da ist schon viel Sehnsucht nach einer heileren Welt. Wenn man auch auf die Bilder hinter den Türchen schaut, so sind dort selten religiöse Motive vorhanden. Es herrschen Bilder von Spielzeugzügen, Puppen oder Schneemännern vor.
Wie kam dann eigentlich die Schokolade in den Adventskalender?
Gajek: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts produzierte der Münchner Verleger Gerhard Lang Adventskalender aus Papier im größeren Maßstab. Das war eine ziemliche Revolution, denn dies war der Schritt von einer individuellen Tradition in vielen Familien zu einer weitergehenden Verbreitung. Die Zahl der Türchen wurde auf 24 standardisiert und von der jährlich sich verändernden Zahl der Tage vom ersten Advent bis zum Weihnachtsfest entkoppelt. Um 1925 erschien dann der erste Kalender mit Schokolade, seit den 1950ern setzen sich die Schokokalender vermehrt durch. Sie sind die logische Weiterentwicklung. Statt dem Bild eines Teddybären gab es nun eben einen Teddybären aus Schokolade hinter dem Türchen. Das hat den Kindern natürlich sehr gut gefallen, aber die Exemplare mit Papierbildchen wurden weiter gekauft.
Parfüm, Bier, Tierfutter: Als Volkskundlerin muss es Ihnen wehtun zu sehen, mit welchen Adventskalendern Menschen sich heute auf die Weihnachtszeit einstimmen.
Gajek: Ich persönlich schätze die kunstvoll illustrierten und handwerklich schönen Kalender der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts sehr. Aber als Kulturwissenschaftlerin und natürlich als Sammlerin interessiert mich alles: Wer gerne einen Adventskalender mit Müsli, Nagellack oder Schnaps hat, dem sei das gegönnt. Adventskalender sind auch immer Spiegel ihrer Zeit.
Inwiefern?
Gajek: Nur ein Beispiel: Während des Dritten Reichs wurde versucht, die Adventszeit umzudeuten. Christlich-religiöse Elemente wurden entfernt und mit Inhalten der neuen Ideologie besetzt. Der Adventskranz wurde zum Sonnenwendkranz, das Christkind zum Lichtkind. Ab 1940 durften herkömmliche Adventskalender wegen der Papierkontingentierung nicht mehr gedruckt werden. Hefte wie „Vorweihnachten“ – ein Ersatz für das Wort Advent – erschienen, mit einer Doppelseite für jeden der 24 Tage: Da gab es dann Malbilder für Panzer, Darstellungen von hakenkreuzähnlichen „Sonnenrädern“ auf dem Weihnachtsbaum, Holzschnitte von Soldaten und Weihnachtslieder mit völkischen Texten.
Das Abzählen der Tage bis Weihnachten lehrt auch Geduld.
Gajek: Für Kinder war das im frühen Bürgertum auf jeden Fall eine Zusatzfunktion der Kalender. Eine Übung in Disziplin. Des Sich-beherrschen-Müssens. „Sei nicht zu neugierig und vergreife dich an den Schiebern, die für die nächstfolgenden Tage bestimmt sind. Eins ums andere!“, hieß es in der Gebrauchsanweisung eines frühen gedruckten Kalenders. Klar, früher war das für die Kinder eine Art Abzählen bis zum schönsten Tag des Jahres mit einem Cliffhanger und dann der besonderen Überraschung, was hinter dem letzten Türchen warten könnte. Geduld war da eine wichtige Tugend.
Haben Adventskalender eine Zukunft?
Gajek: Da bin ich mir sicher. Vorfreude ist die schönste Freude, und dieses Gefühl ist zeitlos. Wie wir an der Geschichte sehen, sind die Adventskalender ohnehin schon vielen Veränderungen unterworfen gewesen und haben sich von ihrer ursprünglichen Bestimmung entfernt. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass diese Entwicklung zu einem Ende kommt.