Berlin. Tobias Esch, Mediziner und Bestseller-Autor, kritisiert das „Höher, schneller, weiter“ im deutschen Gesundheitswesen. Ein Interview.

Überangebot, Selbstausbeutung, Zeitdruck: Der Arzt, Neurowissenschaftler und Bestseller-Autor Tobias Esch kritisiert das Lebensmodell einer Gesellschaft, die geprägt sei vom ewigen Streben nach Mehr. Das gelte vor allem für die Medizin und das Gesundheitswesen, von dem sich die Deutschen abhängig gemacht hätten. „Corona und die Zeit der Pandemie haben mich in dieser Sicht bestärkt“, sagt der Experte für Integrative Medizin.

Herr Esch, Sie fordern in ihrem neuen Buch, dass wir mehr nichts brauchen. Was genau meinen Sie damit?

Tobias Esch: Ich bin seit 25 Jahren Mediziner und beschäftige mich seit vielen Jahren damit, dass das Prinzip „Höher, schneller, weiter, immer mehr“ im Gesundheitswesen nicht mehr gut funktioniert. Klar, die medizinische Forschung hat eindeutig unglaubliche Fortschritte erzielt – Therapien hervorgebracht, die die Lebensqualität verbessern, die Leben retten können. Das sehen wir auch in der Pandemie. Das exponentielle Wachstum in der Medizin bringt aber leider auch eine Reihe an Kollateralschäden mit sich.

Welche sind das?

Antibiotikaresistenzen, einen enormen Medikamentenverbrauch, Medizinprodukte wie künstliche Hüften oder Kniegelenke, die verkauft werden und die Patienten bekommen, die sie gar nicht bräuchten, während andere, die sie dringend bräuchten, leer ausgehen. Es gibt eine Schieflage bei der Verteilung von Gesundheitsleistungen innerhalb unserer Gesellschaft, aber auch eine globale Ungleichheit. Etwa aktuell bei der Impfstoffverteilung, wo einige Länder schlicht viel zu wenig abbekommen. Mir geht es darum, dass wir innehalten und uns wieder aufs Wesentliche konzen­trieren.

Pro. Tobias Esch ist Arzt und Gesundheitsforscher und Leiter des Instituts für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Universität Witten/Herdecke. In seinem neuen Buch „Mehr Nichts!“ kritisiert er das Streben nach Konsum und plädiert für mehr Achtsamkeit.
Pro. Tobias Esch ist Arzt und Gesundheitsforscher und Leiter des Instituts für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Universität Witten/Herdecke. In seinem neuen Buch „Mehr Nichts!“ kritisiert er das Streben nach Konsum und plädiert für mehr Achtsamkeit. © Marina Weigl | Marina Weigl

Was müsste sich aus Ihrer Sicht mit Blick auf die Medizin ändern?

Die Deutschen stehen weltweit an der Spitze, wenn es darum geht, sich ärztliche Hilfe zu holen. Das zeigt zum einen, dass die verschiedenen Fachgebiete nicht gut zusammenarbeiten, Behandlungen nicht gut ineinandergreifen. Zum anderen aber auch, dass sich die Menschen von den Ärztinnen und Ärzten abhängig gemacht haben. Als Patienten haben viele das Zutrauen in die eigenen Selbstheilungskräfte verloren. Und auch die Ärzte lernen in der Ausbildung nicht, diese zu aktivieren, um den Erkrankten zu helfen. Es geht um schnelle Lösungen. Symptomlinderung.

Kranke bekommen also Medikamente oder Operationen, weil dies der einfachste Weg ist? Oder weil sie Geld bringen?

Teilweise ja. Ich bin weit davon entfernt, Ärzte- oder Pharma-Bashing zu betreiben. Aber gerade bei den lebensstilassoziierten Krankheiten wie beispielsweise Bluthochdruck oder Typ-2-Diabetes werden Medikamente regelrecht wie eine Dusche über der Gesellschaft ausgegossen. Dabei könnte man mit ausreichend Bewegung, gesunder Ernährung, Stressregulation und Entspannungsverfahren ganz ohne Frage viel erreichen – einige Menschen sogar medikamentenfrei bekommen. Um das zu erreichen, müsste man die Patienten aber dazu bringen, achtsamer mit sich umzugehen. Hilfe zur Selbsthilfe. Das kostet viel Mühe und Zeit und ist eine hohe Kunst. Lesen Sie auch: Darum ist Fasten im Corona-Lockdown besonders sinnvoll

Achtsamkeit ist doch zu einem regelrechten Hype geworden? Fangen die Menschen nicht bereits an, sich wieder mehr auf sich selbst zu besinnen?

Das stimmt. Gefühlt dreht sich heute alles um Achtsamkeit. Auch Firmen, selbst die Dax-Konzerne, kommen gar nicht mehr um das Thema herum. Man hat das Gefühl, alles muss jetzt spirituell und achtsam werden. Gleichzeitig sehen wir, dass die Menschen die Kirchen verlassen und austreten, scharenweise. Was passiert, ist oft eine Funktionalisierung der spirituellen Techniken. „Achtsamkeit to go“ – frei nach dem Motto: Ich schmeiß jetzt eine Achtsamkeitsübung ein, und dann geht es mir gut. Aber darum geht es nicht. Es geht eigentlich um das regelmäßige, ehrliche Besinnen nach innen. Lesen Sie dazu: Wie Sie sich trotz Corona-Stress entspannter fühlen

Tobias Esch mahnt im Interview zu mehr Bewegung und gesunder Ernährung als Prävention: “Medikamente werden regelrecht wie eine Dusche über der Gesellschaft ausgegossen.“
Tobias Esch mahnt im Interview zu mehr Bewegung und gesunder Ernährung als Prävention: “Medikamente werden regelrecht wie eine Dusche über der Gesellschaft ausgegossen.“ © iStock | istock

Wir brauchen also eigentlich nicht weniger oder nichts, sondern mehr von anderen Dingen.

Das ist völlig richtig. Es geht mir um einen Perspektivwechsel. Statt sich Gesundheit mit Medikamenten zu erkaufen, Glücksgefühle durch Konsum oder was auch immer, geht es darum, den Fokus auf sich selbst zu richten. Probleme langfristig anzugehen und so dauerhaft zu lösen. Es geht darum, sich zu emanzipieren, sich darauf zu besinnen, was man wirklich braucht – in der Medizin, aber auch etwa in der Politik, der Wirtschaft oder mit Blick aufs Klima. Stattdessen versuchen wir, unseren persönlich erlebten inneren Mangel, unsere Bedürfnisse durch Konsum zu kompensieren – eine Aufwärtsspirale.

Was hilft aus Ihrer Sicht, diese Spirale zu durchbrechen?

Das wären zum einen die bereits angesprochenen Selbstheilungskräfte, echte Achtsamkeit. Beim Thema Konsum denke ich etwa an die Tiny-House-Bewegung, Läden mit unverpackten Produkten, generelle Müllvermeidung, Fleischverzicht und auch beim Thema Mobilität eine bewusste Reduktion des CO2-Abdrucks. Noch dazu brauchen wir Vorbilder. Wie brauchen Menschen, die uns Zufriedenheit vorleben. Und das sind nicht die Dieter Bohlens dieser Welt. Zudem hilft uns das bewusste Erleben von Freude. Es geht nicht um Entsagung und Tristesse – das genaue Gegenteil. Sich immer wieder fragen: Was macht mich wirklich glücklich? Auch interessant: Glücklich im Alter – Wie Sie zu innerer Zufriedenheit finden

Hand aufs Herz: Wie gut gelingt Ihnen das selbst?

Auf einer Skala von null bis zehn würde ich lügen, wenn ich sagen würde zehn. Das wäre Unsinn. Ich bin für Transparenz und Authentizität. Ich würde mal sagen: eine gute Sieben – mit Potenzial zur Acht. Ich fahre mit dem Fahrrad zur Uni, jeden Tag eine halbe Stunde hin und zurück, obwohl ein ziemlich ekliger Berg dazwischen ist und ich verschwitzt ankomme. Ich nutze für lange Strecken die Bahn, esse kein Fleisch, beginne meinen Tag mit Yoga und Meditation. Aber ich fliege mindestens einmal im Jahr. Mein CO2-Abdruck könnte also durchaus besser sein. Auch beim Müll geht sicher noch was, genauso beim Stromverbrauch. Aber jeder, der mich einen Tag begleitet, wird merken, dass ich es ehrlich meine mit dem, was ich sage und schreibe.

Zur Person

Prof. Tobias Esch (50) ist Arzt und Gesundheitsforscher und seit 2016 Leiter des Instituts für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Universität Witten/Herdecke. Zuvor war er unter anderem als Wissenschaftler an der Harvard Medical School tätig und hat über 200 Forschungsarbeiten verfasst. Seine wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunkte sind die Glücks- und Achtsamkeitsforschung.

Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter „Der Selbstheilungscode“, „Die Neurobiologie des Glücks“ sowie der Bestseller „Die bessere Hälfte“. Eschs aktuelles Buch „Mehr Nichts!“ ist bei Goldmann erschienen.

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