Berlin. Mehr Schwangerschaften, weniger Frühchen? Drei Experten sehen erste Erkenntnisse zu einem Effekt der Pandemie auf Geburten kritisch.

Der April war der Monat voll großer Vorhersagen: Die Selbstisolation während der Pandemie würde Paare näher zusammenbringen, werdende Mütter entspannen, gar einen Babyboom erzeugen. Apotheker berichteten von einer gestiegenen Nachfrage nach Schwangerschaftstests, einige Frauenärzte erlebten eine deutliche Zunahme an Patientinnen.

Im Juni erschienen dann zwei verheißungsvolle Studien von Forschern aus Dänemark und Irland, die scheinbar einen drastischen Rückgang der Frühgeburten im Frühjahr zeigen konnten. Anscheinend waren Schwangerschaften während der Pandemie unproblematischer verlaufen.

Doch was ist wirklich dran an solchen Beobachtungen? Lässt sich jetzt schon sagen, welche Auswirkungen die Pandemie auf Geburten und Schwangerschaften in Deutschland gehabt hat?

Gynäkologe: Studienergebnisse „mit absoluter Vorsicht genießen“

„Ich würde solche Nachrichten mit absoluter Vorsicht genießen“, meint der Gynäkologe Alexander Hein. Er ist leitender Oberarzt an der Frauenklinik des Erlangener Universitätsklinikums und mahnt vor schnellen Interpretationen: „Es ist viel zu früh, um diese Ergebnisse zu beurteilen. Ich kann das aus unserem Haus beispielsweise gar nicht bestätigen.“

Das dänische Forscher-Team war auf nahezu leere neonatologische Stationen aufmerksam geworden. Sie verglichen daraufhin die Zahl der landesweit von Mitte März bis Mitte April geborenen Frühchen unter 28 Wochen – sogenannte Neugeborene mit extremer Unreife – mit den Daten des gleichen Zeitraums in den fünf Jahren davor.

Corona-Effekt: Tatsächlich weniger Frühgeburten?

Das Ergebnis sorgte für Schlagzeilen: Die Zahl der Frühchen war scheinbar um 90 Prozent gesunken. Die Forscher schlussfolgerten, dass die Ruhe durch Social Distancing, Homeoffice und andere Maßnahmen zum Infektionsschutz den Müttern gut getan hätten. Auch die geringere Luftverschmutzung habe zu unkomplizierteren Schwangerschaften beigetragen.

Alexander Hein hat erhebliche Zweifel an den aufgeführten Gründen für die verminderte Frühgeburtsrate in der Studie, die auch noch nicht von unabhängigen Gutachtern beurteilt wurde. „Die Aussage, dass viele Frauen während des Shutdowns mehr Ruhe gehabt hätten, würde bei den meisten Frauen wohl auf großes Unverständnis stoßen“, sagt der Gynäkologe.

Hebammenverband: Pandemie ist für Schwangere eine psychische Belastung

Psychisch sei die Zeit des Shutdowns für viele Schwangere eher eine Belastung gewesen: Immerhin sei lange vollkommen unklar gewesen, was eine Covid-19-Infektion für das ungeborene Kind bedeuten könne. Eine aktuelle Studie legt zumindest nahe, dass Schwangere bei einer Infektion öfter intensivmedizinisch betreut werden müssen. Außerdem ist die Behandlung schwieriger: Bei Schwangeren ist beispielsweise die Corona-Behandlung mit dem Medikament Remdesivir nicht zugelassen.

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Hein fügt hinzu, dass viele Mütter bereits Kinder hätten und dadurch im März und April auch viel Care-Arbeit zum Beispiel in Form von Kinderbetreuung geleistet hätten. Ruhe? Von wegen.

Andrea Ramsell, Präsidiumsmitglied und Beirätin für den Angestelltenbereich des Deutschen Hebammenverbands, sieht das ähnlich. Für werdende Mütter seien die vergangenen Monate mitnichten entspannt gewesen. „Natürlich war die körperliche Schonung bei Schwangeren, die sonst einen sehr anspruchsvollen Alltag haben und lange Wegstrecken zur Arbeit und zur Kita oder Schule zurücklegen, größer. Aber psychisch war das eine Belastung.“ Für Ramsell sind die Schlussfolgerungen aus der Studie „Spekulationen“.

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    Alexander Hein von der Frauenklinik Erlangen hat eine Vermutung, weshalb es so wenige Frühchen gegeben haben könnte. Eine Studie aus Großbritannien zeige beispielsweise, dass die Zahl der intrauterinen Fruchttode während des Shutdowns stark zugenommen habe. Von einem intrauterinen Fruchttod spricht man, wenn das heranreifende Kind während der zweiten Schwangerschaftshälfte im Mutterleib stirbt. Bei einer solchen Totgeburt wiegt das Kind bereits mindestens 500 Gramm, es ist aber kein erkennbares Lebenszeichen mehr nachzuweisen.

    Einen kausalen Zusammenhang möchte Hein noch nicht herstellen. Doch ähnlich wie bei Herzinfarkten, Tumor-Erkennung und anderen Krankheitsbildern, die statistisch während des Frühjahrs zurückgegangen seien, vermutet Hein, dass auch Schwangere nur noch die nötigsten Arzttermine während dieser Zeit wahrgenommen haben. Dadurch wären Fälle, in denen eine Frühgeburt notwendig gewesen wäre, vielleicht seltener festgestellt worden.

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    Bundesverband der Frauenärzte sieht keinen Corona-Babyboom

    Ob sich die Corona-Zeit wirklich auf die Zahl der Frühgeburten ausgewirkt hat, zieht auch Christian Albring in Zweifel. Er vertritt als Präsident des Bundesverbands der Frauenärzte (BVF) alle Gynäkologinnen und Gynäkologen in Kliniken und Praxen in Deutschland. „Wir sehen derzeit in den einzelnen Frauenarzt-Praxen keine auffällige Zu- oder Abnahme von Aborten oder Fehl- und Frühgeburten durch den oder nach dem Corona-Lockdown“, berichtet Albring.

    Auch die Zahl der Schwangerschaften insgesamt weiche nicht erheblich vom normalen Mittel ab, man beobachte in den einzelnen Frauenarzt-Praxen kein „Mehr“ an Schwangerschaften, das man zahlenmäßig fassen könne. „Gefühlt könnten es zwar sechs bis neun Prozent mehr Schwangerschaften sein. Aber das kann auch an Schwankungen durch den Lockdown liegen, als im März und April in der ersten Corona-Phase manche Frauen, die frisch schwanger waren, den Besuch in der Praxis aufgeschoben haben bis in den Mai“, so Albring.

    Mehr Ruhe im Wochenbett durch Corona-Maßnahmen

    Einen Babyboom scheint es durch die Pandemie in Deutschland also nicht zu geben. Auch kein Frühchen-Wunder. So zumindest die Momentaufnahme. Zwei Dinge haben die vergangenen Monate aber trotzdem gezeigt, sagen Alexander Hein und Andrea Ramsell: Mehr Ruhe im Wochenbett und eine gute Betreuung im Kreißsaal täten allen Müttern gut.

    Hein berichtet, dass die Einschränkung der täglichen Besuche und der Besuchszeiten nach der Geburt viele Mütter auch entspannt hätte. An Andrea Ramsell haben viele Hebammen zurückgemeldet, dass durch die Ruhe oft eine bessere, unkomplizierte Stillbeziehung entstanden wäre.

    Gleichzeitig hätte es bei vielen Schwangeren zu großer Verunsicherung geführt, dass in einigen Krankenhäuser der Vater nicht im Kreißsaal anwesend sein durfte, das medizinische Personal auf ein Minimum begrenzt wurde: „Es gab insgesamt sehr viel Angst und Sorge in Geburtssituationen. Das ist kontraproduktiv“, sagt Ramsell. Dadurch wäre noch einmal klar geworden, wie wichtig ein guter Betreuungsschlüssel bei Geburten sei.

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