Berlin. Eine Ärztin hat ihren Brustkrebs mit selbst gezüchteten Viren behandelt. Über den Versuch und das Ergebnis tobt in Fachkreisen eine Debatte.
Der Fall ist Aufsehen erregend: Die Virologin Beata Halassy aus Zagreb spritzt sich über einen Zeitraum von zwei Monaten mehrfach Viren direkt in ihren Brustkrebstumor. Der Tumor schrumpft, löst sich von Muskel und Haut und wird herausoperiert. Eine anschließende Analyse zeigt, dass der Tumor von Immunzellen zersetzt ist.
Fast vier Jahre ist das her. Die Kroatin ist eigenen Angaben zufolge seit 45 Monaten krebsfrei. „Die kurz- und mittelfristigen Ergebnisse dieser unkonventionellen Behandlung waren zweifellos positiv“, schreibt sie in einem Bericht im wissenschaftlichen Fachjournal „Vaccines“.
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Seit dem Erscheinen des Artikels Ende August tobt in Fachkreisen eine Debatte: Hat Beata Halassy mit dem Selbstexperiment ethische Standards verletzt und Menschen von konventionellen Behandlungen abgehalten? Oder hat sie der Medizin einen Dienst erwiesen?
Viren gegen Krebs: Zufallsfund aus den 70er-Jahren
Wie die Wissenschaftlerin in „Vaccines“ erklärt, ist sie keine Krebsspezialistin. Als Virologin habe sie aber Kenntnisse über Viren. Und diese Kenntnisse seien ausreichend gewesen, um das Risiko des Selbstexperiments kalkulieren zu können.
Den Angaben zufolge spritzt sie sich erst ein gezüchtetes Masern-, dann ein gezüchtetes Stomatitis-Virus in ihren Brustkrebstumor. Dieser war trotz Chemotherapie und Brustamputation schon zwei Mal zurückgekehrt. Onkologen begleiten das Vorgehen, um bei ausbleibenden Resultaten noch eingreifen zu können.
Halassys Selbstbehandlung ist unkonventionell, hat aber einen konkreten Hintergrund und basiert auf Erkenntnissen zur onkolytischen Virotherapie, kurz OVT. Die Medizin forscht daran seit Jahrzehnten. Denn per Zufall war in den frühen 1970er-Jahren entdeckt worden, dass Viren Krebs bekämpfen können. Ein Kind mit einem Tumor im Augenbereich hatte sich gerade mit dem Wildtyp des Masernvirus angesteckt, als der Tumor zu schrumpfen beginnt. Die Masernviren hatten auch die Krebszellen infiziert und das Immunsystem angeregt, diese zu zerstören.
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Krebs: „Gibt viele Erfahrungen mit dem Medikament“
In der Folge entwickelt die Wissenschaft aus dem Zufallsfund ein Behandlungsprinzip. 2015 erhält das erste Medikament auf Basis eines Herpesvirus eine Zulassung in den USA und Europa. Seitdem hilft es bei der Therapie von schwarzem Hautkrebs im fortgeschrittenen Stadium.
„Es gibt viele Erfahrungen mit dem Medikament, das unter anderem von niedergelassenen Onkologen mit großem Erfolg lokal angewendet wird“, sagt Professor Guy Ungerechts. Der Krebsforscher ist stellvertretender Ärztlicher Direktor der Abteilung Medizinische Onkologie am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg.
Ungerechts bewertet den Heilversuch von Beata Halassy als vertretbaren Sonderfall, durchgeführt von einer Virologin mit Unterstützung eines Ärzteteams. „Ein solcher Versuch darf nicht dazu dienen, eine klinische Studie zu ersetzen und er muss aus einer gewissen Verzweiflung heraus geschehen. Die Patientin oder der Patient darf keine weitere Option haben und er oder sie müssen vollumfänglich informiert sein über den potenziell auch tödlichen Ausgang“, sagt Ungerechts. Bestehe darüber Konsens und herrsche Transparenz, „dann ist dieser Heilversuch für mich gerechtfertigt.“ Kein Laie werde deshalb notwendigerweise eine konventionelle Behandlung ablehnen.
Viren können Krebszellen aufbrechen und zerstören
Gefährlich und unethisch wäre das Experiment für Ungerechts, „wenn daraus eine Fehlinformation entstehen würde. Dass man jetzt über ein neues Krebsmedikament verfügt, das besonders gut oder besser als der zugelassene Standard wirkt. Das könnte Scharlatanerie befeuern.“
Guy Ungerechts ist einer der renommiertesten Forscher zur OVT. Seit fast 20 Jahren arbeitet er daran. „Es gibt tatsächlich Viren, die sich besonders gerne in Krebszellen vermehren und diese dabei am Ende auch aufbrechen oder über andere Mechanismen zerstören können“, erklärt er. Das gelte etwa für Masernviren, an denen er in Heidelberg forscht, aber auch für Herpes-, Adeno-, Parvo-, Polio- oder Pockenviren.
Die Fortschritte seien vielversprechend. In Heidelberg zum Beispiel liefen gerade die Vorbereitungen einer klinischen Studie mit einem selbst entwickelten OVT auf Masernvirus-Basis. Ziel ist es, mittelfristig ein weiteres Immunoviro-Therapeutikum in Europa zuzulassen. Dabei sollen modifizierte Masernviren im Kampf gegen solide Tumore helfen. Die Erkenntnisse aus Labor und Mausmodell stützten dabei die Hoffnung, mit dem Mittel „auch systemisch Erfolge im Kampf gegen metastasierte Krebserkrankungen erzielen zu können“, so Ungerechts.
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„Selbstmedikation nicht erster Behandlungsansatz“
Vom Grundsatz her gehört die OVT zu den Immuntherapien, die seit Jahren die klassischen Säulen der Krebsbehandlung ergänzen: Chemotherapie, Bestrahlung und Operation. „Die von uns und anderen erforschten Viren, die im Gegensatz zu den Wildtypen nicht mehr krank machen, werden aktuell im Design und Engineering weiterentwickelt“, sagt Ungerechts. Bildlich gesprochen, gebe man ihnen einen vollgepackten Rucksack mit, um ein potentes Werkzeug im Kampf gegen Krebszellen zu sein, so der Experte.
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„Ich glaube, dass das in fünf bis zehn Jahren zu weiteren erfolgreichen Zulassungen von entsprechenden Medikamenten dieser Art führen kann“, sagt Ungerechts. Sie könnten eine sehr individualisierte Therapie ermöglichen, die die klassischen Konzepte ergänzten. „Im Idealfall haben wir dann eine Möglichkeit, aus einem Patienten mit einer metastasierten Krebserkrankung einen chronisch kranken Patienten zu machen, dessen Krebs wir für eine lange Zeit unter Kontrolle haben.“
Beata Halassy und die am Selbstexperiment beteiligten Mediziner stellen in ihrem Bericht übrigens klar, „dass die Selbstmedikation mit onkolytischen Viren nicht der erste Ansatz für die Behandlung von diagnostiziertem Krebs sein sollte“. Und doch wollen sie mit ihrer Arbeit etwas erreichen: Dass die Forschung dazu weiter gefördert wird.
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