Die Zahl der Asylsuchenden aus Serbien steigt deutlich an. Fast alle von ihnen sind Roma. Eine Recherche von Billstedt bis Belgrad.
Als Belgrad langsam erwacht, packen sie ihre Sachen zurück in die Tüten und Koffer. Alte Gürtel, Hemden, gebrauchte Fernbedienungen, Bücher, Tuben mit Sonnencreme und Zangen, einen Dortmund-Schal, einen Dildo.
Männer, Frauen und Kinder schleppen ihre Taschen über Schlamm und Sand in ihre Autos. Andere ziehen weiter zum nächsten Straßenflohmarkt. Zurück bleiben nur wenige, die direkt neben der Autobahnbrücke, in Hütten leben, zusammengebastelt aus Holz, Pappe und Wellblech. „Kartonstädte“ sagen viele zu den Siedlungen. Es ist kurz vor acht Uhr in der serbischen Hauptstadt. 150 Meter entfernt von Schlamm und Wellblech spiegelt sich die Morgensonne in der Glasfassade des „Holiday Inn“.
Auch Zlatan, 29, verkaufte auf dem Flohmarkt, das ist schon einige Zeit her, als hier noch viel mehr Menschen Gesammeltes oder Gebrauchtes für ein paar serbische Dinar verkauften. Doch irgendwann kamen Polizisten immer häufiger, verteilten Strafzettel, nahmen Ware in Lastern mit. Das berichten die Menschen hier an der Autobahnbrücke. Die meisten von ihnen sind Roma.
Auch Zlatan ist Roma, bekam auf dem Flohmarkt einen Strafzettel, 130 Euro. Nur ein Beispiel, sagt er. Wenn Zlatan im Wohnzimmer seiner Billstedter Wohnung ein Wort für sein Leben in Serbien sucht, landet er schnell bei „beschissen“. Deshalb kratzte er vor Monaten sein weniges Geld zusammen, stieg mit seiner Frau und den vier Kindern in einen Bus in Belgrad und reiste nach Hamburg. Es ist sein dritter Versuch, ein neues Leben zu beginnen. Er sagt: ein menschenwürdiges Leben.
Die Behörden sehen keine „asylrelevante Verfolgung“ in Serbien
Zlatan hat einen Antrag auf Schutz in Deutschland gestellt. Seine Chance geht gen null. Von 10.204 Asylanträgen in den ersten vier Monaten 2015 von Menschen aus Serbien hat das Bundesamt in vier Fällen die Abschiebung verboten. Alle anderen wurden abgelehnt. Hamburger Behörden schoben 2014 mehr als 300 Menschen nach Serbien ab, doppelt so viele wie 2013.
Politiker der Bundesregierung und Vertreter der Länder haben einen Begriff in die Asyldebatte getragen: Serbien gilt als „sicheres Herkunftsland“. Roma seien „gesellschaftlich benachteiligt und leben häufig in einer schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Lage“, schreibt das Innenministerium auf Nachfrage. „Eine asylrelevante Verfolgung dieser Personengruppe findet jedoch nicht statt.“ Dem Staat entstünden aber hohe Kosten durch die Versorgung der Fälle aus dem Balkan, zu Lasten der „tatsächlich Schutzbedürftigen“. Aus Syrien oder Afghanistan.
Innenpolitiker wie der CDU-Mann Stephan Mayer heben hervor, dass es auch für sichere Herkunftsstaaten eine Einzelfallprüfung gebe. Schutz sei keinesfalls ausgeschlossen. Doch ganze Länder des Balkan als sicher zu deklarieren – es sagt viel über die Debatte aus, seitdem die Zahl der Asylbewerber wieder stark ansteigt: Wie viel Hilfe kann und will sich Deutschland leisten? Das Asylrecht schützt nur politisch Verfolgte. Hunger oder Diskriminierung zählt nicht als „asylrelevant“.
Die EU hält fest: Die Gruppe der Roma leide unter sozialer und wirtschaftlicher Diskriminierung, unter „extremer Armut“ und „begrenztem Zugang“ zu Arbeit, Bildung, Gesundheit. Die Vereinten Nationen berichten: Einige der Roma-Siedlungen verstoßen gegen Menschenrechtsstandards. Nach Sicherheit klingt das alles nicht.
Viele leben hier noch in Hütten aus Holz
Petar Antic parkt seinen Wagen vor einem Spielplatz in einem Belgrader Außenbezirk. 583 dieser „informellen Roma-Siedlungen“ soll es in ganz Serbien geben. Kinder rennen über den Spielplatz, Erwachsene dösen in Feierabendgesprächen. Antic ist Mitarbeiter bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Neue Häuser wurden mit Geld der OSZE und der EU gebaut. Doch viele leben hier noch in Hütten aus Holz, ohne Strom, ohne fließendes Wasser.
Es ist nicht so, als gäbe es keine Hilfe für Roma. Manche in Belgrad sagen sogar: Wenn du Geld von den Behörden willst, gründe einen Roma-Hilfsverein. Organisationen stiften Stipendien für Hochschulen, trainieren Roma als Kleinunternehmer. EU und OSZE halfen Serbien bei Roma-Projekten mit fünf Millionen Euro seit 2013. 300 Wohnungen seien gebaut worden, Containerdörfer geschlossen worden.
Doch nicht überall kommt das Geld an. Drei Jahre nach der Zwangsräumung einer Siedlung in Belgrad kritisiert Amnesty International, dass 3,6 Millionen Euro EU-Hilfe die Lage für die Roma nicht besserten. Bis Februar sollten Familien angemessene Wohnungen erhalten, das Versprechen wurde nicht eingelöst. Roma sagen: „Vielleicht bekommst du einen Studienplatz oder eine Ausbildung. Danach bist du wieder arbeitslos auf der Straße.“
OSZE-Vertreter wie Antic kritisieren, dass es kaum Roma in den Hilfsvereinen für Roma gebe. Es fehle eine Roma-Elite. Wer in Serbien erfolgreich ist, verheimlicht lieber, dass er Roma ist. „Nach Jahrzehnten der Ausgrenzung glauben Roma nicht mehr an Ideen des sozialen Aufstiegs“, sagt Antic. Er ist Roma – sein Aufstieg ist eine Ausnahme. Offiziell leben etwa 200.000 Roma in Serbien. Genau zählt das aber keine Behörde. Wahrscheinlich sind es fast 500.000. Eine Partei für Roma gibt es im Parlament nicht. Eine Lobby fehlt.
Arbeitsplätze sind Mangelware
Der Mittdreißiger Sascha hat ein kleines Haus in der Belgrader Roma-Siedlung. Im Wohnzimmer steht eine Couch, Tisch und Stühle, ein Fernseher in der Ecke. Nebenan sind ein Zimmer für die Kinder und ein Bad. „Wir leben hier zu siebt“, sagt Sascha. 500 Euro brauche die Familie im Monat. Für Schulbücher, Schuhe, Essen. Vom Amt bekomme Sascha 50 Euro. Er arbeitet schwarz auf einem Recyclinghof, sortiert Papier und Metalle, wie viele Roma in Serbien. Sie sammeln Schrott. Ein Geschäft der Schattenwirtschaft – das Bild manifestiert das europaweite Klischee vom „armen Zigeuner“.
Es ist nicht so, als wäre es leicht für Serben, die nicht Roma sind. Arbeitsplätze sind Mangelware, die Korruption geißelt alle, die Sozialhilfe ist gering. Und doch bitten fast ausschließlich Roma um Schutz in Deutschland.
Dafür gebe es Gründe, sagt Zlatan. Er sitzt auf seinem Sofa in seiner Wohnung in Billstedt. Hier am Rand eines Gewerbegebiets hat die Sozialbehörde viele Roma untergebracht. Zlatan möchte seinen richtigen Namen nicht nennen, weil er Angst habe, offen die serbischen Behörden zu kritisieren. Zu siebt lebt Zlatans Familie in zwei Zimmern. Schon 1992 kam er als Flüchtling mit seiner Familie aus dem kriegszerstörten Jugoslawien nach Hamburg, ging hier zur Schule, war auf dem Weg in eine Arbeitsstelle. Dann schob die Behörde die Familie ab. 2010 versuchte Zlatan sein Glück auf eigene Faust, zahlte Schleuser, kam über Ungarn nach Hamburg. Sein Antrag auf Asyl wurde wieder abgelehnt.
„Hamburg ist meine Heimat. Nach Serbien kann ich nicht zurück.“ Zlatan erzählt, wie er beschimpft wurde: Scheiß Zigeuner! Ihr klaut nur! Wie er geschlagen wurde, als er Metall sortierte. „Da kamen zwei Kerle, erst beleidigten sie mich, dann schlugen sie zu.“ Am Morgen habe Zlatan die Bettdecke vor Schmerz nicht hochheben können. Zlatan und Sascha erzählen beide vom Leben in Serbien, das nur funktioniere, wenn man Ärzte oder Polizisten mit Geld schmiere. Vom Leben ohne Arbeit. Ohne Perspektive.
Auch Sascha ist gerade erst zurück aus Deutschland, sein Asylantrag wurde abgelehnt. Sascha hat eine Tochter, die in Serbien zur Schule geht, ihre Noten seien gut. Der Vater möchte, dass die Tochter mit nach Deutschland kommt und als Friseurin arbeitet. Petar Antic, OSZE-Mitarbeiter, sagt, dass es besser sei, wenn die Tochter mit ihren guten Schulnoten in Serbien ein Studium anfangen würde. „Bachelor für Krankenpfleger, damit hat sie gute Chancen auf einen Aufenthaltstitel. Krankenschwestern werden gesucht.“ Sascha schweigt kurz. Ein Studium in Serbien, das würde Jahre dauern, sagt er. Er will, so schnell es geht, zurück nach Deutschland. „Ich weiß, es gibt eine Chance für mich dort.“ Diesmal habe er ein Attest eines Arztes, er sei psychisch krank. Und wer dieses Attest habe, den könnten die deutschen Behörden nicht zurückschicken. Das habe er gehört. Diese Geschichten befeuern seinen Traum von Deutschland.
Deutsche schickten im Dritten Reich auch Roma in Konzentrationslager
Andere Geschichten gehen so: Roma reisen illegal ein. Sie werfen ihren serbischen Pass weg und sagen vor den deutschen Beamten, dass sie aus dem Kosovo geflohen sind. Das steigere ihre Chancen auf Asyl. Bisher gilt das Kosovo nicht als „sicheres Herkunftsland“.
Die Deutschen schickten Roma im Dritten Reich in die Konzentrationslager. Seit Jahrhunderten leben Roma in Europa, im besten Fall nur am Rand der Gesellschaft. Rassismus, einzelne, aber immer wiederkehrende Übergriffe, wenig Perspektive – das schlägt Roma entgegen. Vergleichbar mit Verfolgungen wie in Syrien oder Afrika ist die Lage derzeit nicht. Das behaupten auch Hilfsorganisationen nicht.
Und doch: Was „asylrelevante“ Unsicherheit ist, ist eine politische Entscheidung. Deutschland schafft eine Hierarchie der Hilfe, um die steigenden Flüchtlingszahlen zu bewältigen und um Aufwand und Kosten überschaubar zu halten. Roma aus Serbien stehen in dieser Hierarchie nicht sehr weit oben.
Zlatan aus Billstedt hält eine Kopie von einem Zeitungsartikel in der Hand. Die Neonazi-Gruppe „Srbska Akcija“ habe dazu aufgerufen, „alle Roma auszurotten“. Sie verteilten ihren Aufruf in in Belgrad. „Das zeigt doch, wie Roma verfolgt werden“, sagt er. Der Artikel ist Zlatans Mahnung an die deutschen Behörden: So sicher leben wir nicht.