Nach den Attentaten von Terroristen in Paris sorgen sich viele Muslime darum, dass der gute Dialog zerbricht. Zu Besuch bei Freitagsgebeten in zwei Moscheen
Als der große Gebetsraum wieder menschenleer ist und die Stille zurückkehrt, führt Abdul-Gaffar Keles durch die Moschee. In einem Raum unter der Treppe stehen Waschbecken an der Wand. Keles krempelt seine Ärmel hoch, spült seinen Mund aus, dreimal nacheinander, auch die Nase, dreimal, er wischt sich mit den nassen Händen über das Gesicht, dreimal, Keles streicht mit den feuchten Fingern über seine Ohren, den Kopf und den Nacken. Dann zieht er seine Socken aus, reckt erst das eine, dann das andere Bein hoch in das Becken, wäscht die Zehen.
So mache man das. Nichts Großes, kein Hokuspokus, aber eben wichtig, die Reinheit vor dem Gebet. Einmal habe ein Arbeitskollege, den Keles noch nicht so gut kannte, beim Klönschnack am Mittag im Büro einen fiesen Satz in die Runde geworfen: „Bei den Muslimen, da waschen die Frauen den Männern die Füße vor dem Gebet.“ Hahaha. Immerhin, sagt Keles, seien die beiden nach diesem blöden Spruch miteinander ins Gespräch gekommen, hätten geredet, über den Islam, den Glauben, das Waschen vor dem Gebet, das natürlich jeder Mann und jede Frau selbst macht. Keles schmunzelt heute, wenn er die Geschichte erzählt.
Das Reden über den Islam war in der Geschichte der Bundesrepublik nie einfach. Viele Jahre hat das Gespräch ohnehin niemanden interessiert, die Gastarbeiter sprachen nur ein paar Fetzen Deutsch, und die Deutschen dachten sowieso, dass die Muslime aus der Türkei bald wieder zurückfliegen in ihre Heimat. Sie blieben, bekamen Kinder und Enkelkinder. In den letzten 20 Jahren flogen dann viele Vokabeln quer durch die Debatte: Leitkultur, Integrationskurs, Kopftuch, Pegida. Und seit dem Angriff auf die französische Satirezeitung und den jüdischen Supermarkt in Paris wieder ein Wort: Terror.
Das Reden über den Islam in Deutschland war nie einfach. Mit jedem Anschlag wie in Paris, mit jedem Brutalo-Video der „Gotteskrieger“ des selbst ernannten „Islamischen Staates“ in Syrien und Irak wird der Dialog schwieriger. Oder nicht?
Die Moschee in Harburg liegt in einem herrschaftlichen Gebäude direkt an der Hauptstraße. Über die Jahrhunderte hat das Haus viele Kratzer bekommen, zuletzt hatte eine Versicherung hier ihren Sitz, die Gemeinde wird erst allmählich fertig mit den Renovierungen. An die Wand im Gebetsraum sind Kalligrafien gemalt: Gott ist einzig. Im Namen des barmherzigen Herrn. Fromme Worte. Abdul-Gaffar Keles kommt häufig hierher, er betet, trinkt Tee, redet. Von seiner Moschee ist es nur ein paar Kilometer Fußweg zu einer anderen Moschee, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, weil sich dort junge Islamisten tummeln und Radikale predigen. Für sie zählt nur „ihr“ Islam. Alles andere sind Ungläubige.
Keles freut sich. Er bedankt sich, dass jetzt ein Reporter kommt und sich das Freitagsgebet anschaut, er freut sich, dass er der Öffentlichkeit zeigen kann, dass der Islam eine friedliche Religion ist. Hier in der Moschee in Harburg sind viele glücklich darüber, dass Kanzlerin Angela Merkel dem Attentat in Paris ihre Antwort entgegenstellte: Der Islam gehört zu Deutschland. Feuer, sagt Keles, dürfe man nicht mit Benzin löschen. Er schmiegt seine Worte lieber in Balsam.
Vielleicht hat das brutale Verbrechen in Paris bei allem Schrecken und Schock doch etwas Gutes gebracht: Muslime und Nichtmuslime reden miteinander. Sie haben auch keine Wahl mehr. Extremisten bedrohen die Freiheit der westlichen Demokratien, und sie wüten in den muslimischen und afrikanischen Staaten. „Der Terror nimmt eine ganze Religion in Sippenhaft“, sagt Yilmaz Cevik, der auch zum Freitagsgebet nach Harburg gekommen ist. Muslimische Verbände demonstrieren in Paris, Berlin oder Hamburg Seite an Seite gegen die Gewalt, Schüler halten Plakate in die Fernsehkameras für Frieden, Vertreter der islamischen Gemeinden distanzieren sich von den Attentätern. Und manche fragen sich, ob Muslime mit jeder Pressemitteilung gegen den Terror ihre Religion näher zu den Terroristen rücken. Ob sie überhaupt von Islamisten sprechen sollen oder lieber von Kriminellen oder Spinnern. Aber geht das? Das Reden über Muslime mit Kalaschnikows und „Allahu Akbar“-Rufen, ohne den Islam zur Verantwortung zu ziehen? In der Moschee meinen sie: Das muss das Ziel sein. Schließlich gehe es um Terror, nicht um Glaube.
Weil Muslime Täter sind. Aber weil Muslime vor allem Menschen sind. Wie Lassana Bathily, den sie nun weltweit als „Held von Paris“ feiern. Er rettete mehreren Menschen bei dem Attentat auf den jüdischen Supermarkt das Leben. Für Imam Samir El-Rajab ist Bathily ein Symbol. Er habe die Grundsätze des Islam verstanden. Nicht die Terroristen. „Eine menschliche Seele zu töten ist im Islam verboten.“ El-Rajab sitzt in seinem Büro der Al-Nour-Moschee. Es liegt in einer ehemaligen Tiefgarage, drei Minuten Fußweg vom Hamburger Hauptbahnhof. Durch eine dünne Holztür dringt das Gemurmel von 200 Gläubigen. In wenigen Minuten wird El-Rajab sich als Vorbeter vor die Männer stellen. Das Islamische Zentrum Al-Nour ist eine der bekanntesten Moscheen in Hamburg. Sie ist religiöser Anlaufpunkt für Menschen aus mehr als 30 Nationen.
Der Eingang ist eine Treppe, die in den Keller führt. Männer warten auf der Straße und vor den Eingängen. Al-Nour ist nicht die einzige Moschee hier. Viele sind nach dem Freitagsgebet kurz etwas essen gegangen und bleiben bis zum Nachmittagsgebet. Andere düsen gleich wieder zurück zur Arbeit.
Polizisten aus der Nachbarschaft kontrollieren auf ihrer Streife noch immer die kleine Nebenstraße. Gleich zweimal war die Moschee zuletzt in den Schlagzeilen. Vor wenigen Monaten drangen junge Männer in die Moschee ein und erzwangen bewaffnet Unterschlupf. Zuvor hatten die Islamisten eine Gruppe Kurden angegriffen. Hamburg erlebte in den Stunden danach schwere Ausschreitungen. Der Steindamm trägt seitdem ein Brandzeichen: Das alles, was in Syrien passiert, ist gar nicht so weit weg von hier.
In einigen Monaten wird die Gemeinde in die ehemalige evangelische Kapernaumkirche in Horn umziehen, die zur Moschee umgebaut werden soll. Noch aber beten die Männer unter der Anleitung El-Rajabs auf braunen, abgetretenen Teppichen und unter verblichenem Stahlbeton. Zum Terror, der in Frankreich 17 Menschenleben kostete, hat El-Rajab eine klare Meinung. Zu den Mohammed-Karikaturen auch. „Wir verurteilen die feigen Anschläge zutiefst. Der Terroranschlag schockt und schmerzt uns sehr. Dieser Extremismus hat keine Religion, und für ihn gibt es an keinem Ort einen Platz.“ Solche Taten würden Muslime in ein schlechtes Licht werfen und Türen für diejenigen öffnen, die den Muslimen schaden wollen.
Der Terror ist die eine Seite. El-Rajab sieht noch eine andere. Den Propheten Mohammed mit Karikaturen zu verunglimpfen sei nicht in Ordnung. „Was als Meinungsfreiheit deklariert wird, verletzt die Gefühle von 1,7 Milliarden Menschen auf der ganzen Welt.“ Es war das Thema seines Freitagsgebets, das erst auf Deutsch verlesen und vom Imam auf Arabisch gehalten wurde. „Unsere Freiheit endet dort, wo die Freiheit der anderen anfängt. Die beleidigenden Karikaturen des Propheten Mohammed übertreten unserer Meinung nach die rote Linie“, sagt El-Rajab.
Welche Grenzen hat die Freiheit? Und wie weit sind Muslime und das Grundgesetz dabei auseinander? Imam El-Rajab ist ein Freund klarer Worte. So deutlich, wie er die Karikaturen hinter seinem großen Schreibtisch kritisiert, so deutlich erteilt er Gewalt eine Absage. „Wir müssen mit Aufklärung, mit Selbstvertrauen und Geduld reagieren, so wie es der Prophet uns selbst gelehrt hat.“ El-Rajab setzt auf friedliche Demonstrationen. Auf Dialog.
In Dresden setzten zuletzt 25.000 Pegida-Protestler lieber auf scharfe Parolen statt auf Gespräche. Der Imam El-Rajab sagt: „Ohne Zweifel haben die gewaltsamen Reaktionen in Frankreich gegen Muslime nach den Anschlägen und die seit Wochen andauernden Pegida-Proteste in Deutschland bei vielen Muslimen Angstgefühle erzeugt.“ Aber mit Mahnwachen vor dem „Spiegel“-Hochhaus sowie vor der „Hamburger Morgenpost“ hat die Islamische Religionsgemeinschaft Ditib auch ein Zeichen für die Meinungsfreiheit gesetzt. Auf die „Mopo“ war am Sonntag ein Brandanschlag verübt worden.
Abdul-Gaffar Keles denkt in der Moschee in Harburg an den Kamm, über den jetzt alle Muslime geschoren werden könnten. Jedenfalls, wenn es schlecht läuft mit dem Dialog in Deutschland. Dabei ist es gerade die Freiheit in Deutschland, die er liebt. Die Freiheit, seine Religion auszuüben. Aber auch die Freiheit, in einem Rechtsstaat seine Meinung sagen zu dürfen. „Ich kann mir das Leben in einem Staat nicht vorstellen, in dem die Scharia gilt.“ Auch die Freiheit, Religionen zu beleidigen? Keles sagt, dass er die spöttischen Darstellungen vom Propheten Mohammed geschmacklos finde. „Künstlerisch nicht sehr besonders gelungen.“ Aber am Ende pralle das an ihm ab. „Ich bin jetzt 44 Jahre alt, ich lasse mich davon nicht provozieren.“
Keles fand erst in Deutschland zum Islam. Seine Eltern wanderten vor 40 Jahren aus dem türkischen Ostanatolien nach Hamburg aus. Seine Mutter war Analphabetin, sein Vater Arbeiter mit einem Grundschulabschluss. Was interessierte, war nicht die Religion, es waren die Ernte, das Feld, das wenige Geld. „Ich konnte mich hier selbst dafür entscheiden, in die Moschee zu gehen.“
Manchmal reise er in den Urlaub in die Türkei. Aber nach zwei Wochen dort freue er sich auf Hamburg, auf seine Frau und die zwei Kinder, auf seine Nachbarin, die manchmal auf eine Tasse Tee bei ihm vorbeischaue. Er genieße das. Er sei Deutscher, habe die deutsche Staatsbürgerschaft. Auch wenn er Abdel-Gaffar Keles heiße, ein fremder Name in deutschen Ohren. Also buchstabiert er „Keles“ lieber: Konrad. Emil. Ludwig. Emil. Siegfried.