Teil 9: Insa Gall hat den Fall der Berliner Mauer und den grenzenlosen Jubel der Menschen dort erlebt. Für sie war es die größte Party überhaupt. Es begann ganz unspektakulär am 9. November 1989.
Die besten Partys stiegen schon immer in Berlin. Deshalb hatte die geteilte Stadt in unserem Hamburger Studentenleben in den späten 80er-Jahren ihren festen Platz. Einige Freunde waren nach dem Abitur zum Studieren nach Berlin gegangen, das in mancher Hinsicht wie eine Schwester Hamburgs erschien – ähnlich großstädtisch und alternativ, vielleicht wilder und sicherlich kaputter. Oft fuhren wir am Wochenende nach Berlin, um Flohmärkte zu besuchen und Studentenpartys, die meist unkonventioneller waren als bei uns in Hamburg. Die größte Party aber stand Berlin noch bevor. Und wir waren dabei.
Es begann ganz unspektakulär. Am 9. November 1989 kam ich abends gegen zehn Uhr vom Sport nach Hause, klönte noch mit der Freundin, mit der ich mir eine Wohnung in Eimsbüttel teilte. Ich studierte im siebten Semester Geschichte, sie Politikwissenschaft; am nächsten Tag war Seminar. Nur kurz wollten wir vor dem Insbettgehen noch den Fernseher anschalten – und blieben für Stunden davor hängen. Als Moderator Hanns-Joachim Friedrichs in den „Tagesthemen“ von einem historischen Tag sprach, hatten wir keine Ahnung, wovon die Rede war. Die DDR habe mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet seien, sagte er. „Die Tore in der Mauer stehen weit offen.“
Die Mauer – offen?
Zu Hause in Eimsbüttel sahen wir uns ungläubig an. Die Mauer – offen? War das etwa eine schräge Polit-Satire? Seit wir auf der Welt waren, hatte die Mauer Berlin geteilt. Dass sich das über Nacht ändern könnte: undenkbar, trotz der wachsenden Proteste der DDR-Bürger und der Massenflucht über Prager Botschaft und die ungarische Grenze. Erst als wir die ersten Ostberliner in ihren steingrauen Anoraks und mit noch ungläubigem Strahlen im Gesicht durch die Kontrollstellen in den Westen pilgern sahen, wurde das Unfassbare für uns langsam Wirklichkeit – ein Gänsehautgefühl. An Einheit dachten wir nicht, sie lag für unsere Generation so fern wie ein Zusammenschluss mit Dänemark oder Holland. Die Freiheit aber, die in dieser Nacht ihren Triumph feierte, rührten uns im fernen Hamburg zu Tränen. Buchstäblich.
Am nächsten Morgen, dem 10. November 1989, schalteten wir gleich wieder den Fernseher ein. Erneut liefen die Bilder von der Maueröffnung, die Lage war unübersichtlich, aber – daran bestand kein Zweifel mehr – historisch. Schnell war uns klar: Da müssen wir hin! Dabeisein, wenn die Mauer fällt. Was sollten wir in unseren Geschichtsseminaren an der Universität sitzen, wenn in Berlin in diesen Stunden selbst Geschichte geschrieben wurde, wenn Weltpolitik auf der Straße zu erleben war? Dass das Abenteuer, das in den kommenden Monaten und Jahren auf Millionen Deutsche wartete, für uns an diesem Tag zu einem ganz persönlichen Abenteuer werden würde, das ahnten wir noch nicht.
Es dämmerte am Grenzübergang Gudow
Nach Berlin also – aber wie? Ein eigenes Auto besaßen wir als Studentinnen nicht, die Freundin aber konnte sich das ihres Vaters ausleihen. Die Übergabe sollte am frühen Nachmittag sein. Zwei ihrer Mannschaftskolleginnen aus dem Volleyballteam, ältere Schülerinnen, wollten auch mit. Es wurde später Nachmittag, bis alle eingesammelt waren und wir uns zu viert auf den Weg auf die Autobahn machten. Ein paar Schlafsäcke und Isomatten hatten wir in den Kofferraum geworfen, schließlich wollten wir bei einem guten Freund übernachten, der in Moabit wohnte.
Es dämmerte, als wir auf den Grenzübergang Gudow zurollten. Dort war der Teufel los. Die Autos warteten in langen Schlangen vor den Kontrollhäuschen. Auch wenn in Berlin die Mauer gefallen war, hielten sich die Grenzpolizisten hier an ihre Routine und verlangten, im Transitverkehr nach West-Berlin penibel Ausweise, Führerschein und Fahrzeugpapiere zu sehen. Fahrzeugpapiere? Meine Freundin am Steuer stutzte. Wieso Fahrzeugpapiere? Sie war länger nicht mehr in Berlin gewesen. Dass Fahrzeugpapiere vorzuzeigen sein würden, wusste sie nicht und ich hatte vergessen, sie daran zu erinnern. Ob die DDR-Grenzkontrolleure ein Auge zudrücken würden? Sie taten es nicht. Während rings um uns herum in diesen Tagen die alte Ordnung zerfiel, pochten die Grenzer weiter auf ihre Vorschriften.
Und wie hieß Ralf überhaupt mit Nachnamen?
Doch dieser kleine Rückschlag sollte uns nicht von unserem Ziel abhalten. Also parkten wir den Wagen an der Raststätte, trennten uns von unseren beiden Mitfahrerinnen, stellten uns in zwei Grüppchen an die Raststättenausfahrt, wünschten uns gegenseitig Glück und hielten die Daumen in die Abendluft. Es dauerte nicht lange, und ein junger Hamburger hielt an und ließ uns in seinen BMW einsteigen. Er war nett. Während wir auf der Transitstrecke durch die untergehende DDR fuhren, diskutierten wir mit Ralf, so hieß er, die Weltlage. Bald erreichten wir Berlin, die Straßen wurden voller, je näher wir uns der Innenstadt näherten.
Freundlicherweise setzte uns Ralf direkt vor dem Haus des Freundes in Moabit ab, bei dem wir in der Erasmusstraße übernachten wollten. Während wir noch den Rücklichtern seines Autos bis zum Ende der Straße hinterhersahen, wurde meine Freundin unruhig und blickte an sich hinunter. Wo war ihre Handtasche? Mit den Papieren, der Geldbörse und den Schlüsseln des Autos, das in Gudow auf dem Rastplatz stand? Schnell war uns klar: Die Tasche lag noch bei Ralf auf dem Rücksitz und fuhr mit ihm durch Berlin – zu unbekannten Zielen. Und wie hieß Ralf überhaupt mit Nachnamen?
Vielleicht wusste der Freund, bei dem wir übernachten wollten, Rat. Doch auf unser Klingeln antwortete niemand, die Wohnungsfenster blieben dunkel. Wir hatten uns verspätet, und er war schon mal los zur Mauer, schließlich wollte er diesen denkwürdigen Abend nicht zu Hause verbringen. Da standen wir nun, gestrandet in Berlin – ohne Auto, ohne Handtasche, ohne viel Geld und vor allem ohne Schlafplatz! Kein idealer Tag für einen solchen Notfall, er passte allerdings zum Ausnahmezustand, der in Berlin herrschte.
Neugierig wurden Discounter von Ostberlinern beäugt
Was tun? Meine Freundin erinnerte sich an einen Freund, der in Charlottenburg wohnte und uns vielleicht ein Bett für die Nacht bieten konnte. Dass seine Adresse in einem Büchlein stand, das in ihrer Handtasche durch Berlin fuhr, war auch schon egal. Beim Gierkeplatz um die Ecke, das wusste sie noch, und das Haus würde sie dann schon erkennen. Aber ob er zu Hause wäre? Wir gingen zum Turmweg, doch Taxis waren nicht zu kriegen. Also machten wir uns zu Fuß auf den Weg nach Charlottenburg. Unterwegs sahen wir die ersten Trabis – wahrhaftig! Die meisten Menschen, die uns entgegenkamen, hatten ein breites Grinsen im Gesicht. Neugierig wurden Discounter von Ostberlinern beäugt. Vor einer Sparkassenfiliale standen Hunderte Schlange, um das Begrüßungsgeld abzuholen.
Wir hatten Glück: Wir fanden nicht nur das richtige Haus, der Freund war auch zu Hause. Er hatte schon Übernachtungsbesuch von zwei Kieler Jungs, Mauerfall-Touristen wie wir, lud uns aber trotzdem ein, bei ihm im Wohnzimmer zu campieren, und kochte erst einmal Nudeln für alle. Langsam entspannten wir uns und begannen, unsere missglückte Reise mit Humor zu sehen.
Dann ging es los, ins nächtliche Berlin. Zuerst zum U-Bahnhof. Die Bahnsteige waren überfüllt. In den Zügen wurde mit Sekt in Plastikbechern angestoßen. Dicht zusammengedrängt, kamen wir mit einem Pärchen aus Friedrichshain ins Gespräch. Sie konnten ihr Glück noch gar nicht fassen. „Nur mal gucken“, wie der Westen tatsächlich aussieht, wollten sie, und dann wieder zurück nach Ost-Berlin. „Wir können jetzt ja immer wiederkommen.“
Auf dem Kurfürstendamm fuhr ein Korso von Autos
Zur Mauer. Doch am Brandenburger Tor gab es kein Durchkommen. Nur von Ferne konnten wir sehen, dass die Ersten die Mauer bereits mit Meißeln bearbeiteten und große Steine herausgelöst hatten. Rechts, am Tiergarten entlang, war etwas weniger los: Und dort oben saßen sie: Menschen auf der Mauer, die so lange eine unüberwindliche Barriere gewesen war. Aufgekratzt reckten sie Bier- oder Sektflaschen in die Höhe – das war ihr Moment. Immer mehr drängten nach oben, halfen einander hoch.
Auf dem Kurfürstendamm fuhr ein Korso von Autos im Schritttempo durch die Menge. Passanten klopften den Trabis aufs Dach, reichten Schokoküsse durch die Fensterscheibe hinein. Etwas peinlich, fand ich das, gönnerhaft irgendwie. Massen schoben sich über Straße und Fußwege, Fremde hakten einander unter. Ganz Berlin schien zu feiern. Vor dem Kranzler ging nichts mehr. Einige Ost-Berliner umlagerten die Döner-Stände, um die unbekannten Fladentaschen zu probieren. Teils schlug der nationale Glückstaumel in besoffenes Gegröle um. „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ – als hätte Deutschland die Weltmeisterschaft gewonnen.
Der Potsdamer Platz war nach Jahrzehnten wieder zugänglich
Am nächsten Morgen erreichten wir auch den Freund aus der Erasmusstraße. Wir verabredeten uns, er brachte zwei Fahrräder mit. Mit dem Rad fuhren wir kreuz und quer durch Berlin, um einen immer anderen Blick auf die Mauer zu bekommen. Der Verkehr war mittlerweile zusammengebrochen. Die DDR hatte weitere Grenzübergänge geöffnet, eine Million Menschen strömten allein an diesem Tag nach West-Berlin. Was für ein Wochenende.
Die Räder schoben wir sogar über den Potsdamer Platz, der plötzlich nach Jahrzehnten wieder zugänglich war – eine matschige Brache. Neugierig schauten wir hinüber nach Ostberlin, auf den Wohnungskomplex, der bisher weit hinter der Mauer verborgen gewesen war. Wenn ich heute am Sony Center stehe, muss ich immer an diese Fahrradtour über den Potsdamer Platz vor 25 Jahren denken.
Am Ende wurde, wie meist, alles gut. Die beiden Kieler Jungs nahmen uns auf ihrem Weg zurück nach Hamburg mit. Der BMW-Fahrer erwies sich tatsächlich als nett und lieferte die Handtasche am Montag persönlich bei uns ab, die Adresse hatte er in der Handtasche gefunden. Und das Auto fanden wir unbeschädigt an der Raststätte in Gudow. Geblieben ist von dem Wochenende das Glücksgefühl, bei diesem unvergleichlichen Fest der Freiheit dabei gewesen zu sein.
„Wir fahren eben mal nach Büchen, Bananen kaufen“
Mit dem 9. November 1989, dem Tag des Mauerfalls, veränderte sich für uns Lokalredakteure, die in den Außenredaktionen der „Bergedorfer Zeitung“ im Schleswig-Holsteinischen saßen, schlagartig der Arbeitsalltag. Zuvor von den Kollegen aus der Zentralredaktion als „die aus dem trostlosen Zonenrandgebiet“ verspottet, berichteten wir plötzlich mitten aus dem Geschehen – „menschelnde“ Geschichten von der innerdeutschen Grenze, die tags zuvor noch als undenkbar galten.
Etwa von dem alten hellblauen Trabi, der am „Morgen danach“ noch etwas zögerlich auf der A24 auf den Grenzübergang Gudow/Zarrentin zurollt. Am Steuer des Zweitakters sitzt, wie sich kurz darauf herausstellt, ein LPG-Mitarbeiter aus dem benachbarten Vellahn gleich hinter der Grenze. Er streckt uns wartenden Journalisten aus der Seitenscheibe einen Zehnmarkschein entgegen und fragte in unverkennbar breitem Mecklenburgisch: „Wo gifft dat denn hier Bononen?“ Er habe am Morgen schnell die Kühe versorgt und „wolle nun mal sehen, ob das stimmt, was der Schabowski da gestern im Fernsehen erzählt hat“, schiebt er hinterher.
„Di het he betohlt!“
Sekunden später steigt ein Uniformierter zu dem Mann im grünen Arbeitsdrillich in den Trabant und verabschiedet sich lächelnd von den Umstehenden mit den Worten: „Wir beide fahren eben mal nach Büchen, Bananen kaufen!“ Während der Trabant in Richtung Westen davonknattert, erfahren wir von einem schmunzelnden BGS-Beamten: „Das war unser Chef!“
Eine gute halbe Stunde später braust der hellblaue Trabant über die Behelfsauffahrt wieder auf die Raststätte Gudow. Von Weitem sieht man auf der Fahrerseite einen Arm, der eine Hand voll Bananen aus dem Fenster reckt. Auf dem Parkplatz stellen sich der LPGler und der BGSler den Journalisten noch für ein Foto, das den Beginn einer deutsch-deutschen Freundschaft belegen soll. Auf die Frage, warum er neben den Bananen denn auch noch den Zehner in der Hand hat, entgegnet der Trabifahrer augenzwinkernd und dabei auf den Beamten deutend: „Di het he betohlt!“ Dann dreht er sich zu dem BGS-Hauptkommissar um und hat nur noch ein Problem: „So, un wo koom ik nu wedder no Huus? Mien Frou töövt mit dat Middageten op mi!“