Vor der Europawahl werben die Parteien mit Slogans und Bildern auf Plakaten an den Straßen. Die meisten ganz klassisch mit Spitzenkandidaten oder Motto. Andere verspielt oder mit großen Fotos. Eine Stilkritik.
Hamburg. Auch Wahlkampf ist in Deutschland industriegenormt. 84,1 mal 118,9 Zentimeter. So groß sind die Plakate, die Passanten und Autofahrer derzeit an Laternen oder Bäumen hängen sehen. In Hamburg scheinen sie besonders groß, weil die Plakate nicht oben am Baumstamm oder an dem Pfeiler aufgehängt werden dürfen, sondern nur in Bodennähe. Damit sie überhaupt im Vorbeigehen wahrgenommen werden, stehen sie dort nun in der Größe DIN A0.
Schon während der Revolution von 1848 warben Politiker auf Plakaten mit Botschaften. Die Nationalsozialisten waren in Deutschland auch deshalb erfolgreich, weil sie Plakate geschickt für ihre Propaganda einsetzten. Heute gibt es Twitter, Facebook und Internetseiten. Dennoch spielen die Plakate auf den Straßen für alle Parteien eine wichtige Rolle im Wahlkampf für die Europawahl. „Das Plakat ist das Werbemittel, mit dem Parteien im Wahlkampf mit überschaubarem Aufwand flächendeckend präsent sein können“, sagt Robert Heinrich von den Grünen. Er leitet die Öffentlichkeitsarbeit der Partei.
Auch traditionelle Volksparteien wie die CDU setzen auf Plakate – neben der Wahlkampagne im Internet. Die stark netzaffine Piratenpartei hebt hervor: Die Straße und das Internet widersprechen sich als politische Räume nicht. Im Gegenteil: Sie ergänzen sich. Manche Plakate würden nur an wenigen Stellen in Deutschland hängen. „Aber dann fotografiert ein Bürger ein Motiv, stellt es ins Netz, und das Plakat verbreitet sich digital“, sagt Christophe Chan Hin, Kommunikationsdesigner der Piraten.
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Plakate sind so etwas wie politische Appetizer. Kleine, wenn es gut läuft, auch geschmackvolle, politische Häppchen. Kurze Botschaften, meist noch kürzer als eine Twitter-Nachricht im Internet. Dazu klare Bilder – oftmals mit den Spitzenkandidaten der Parteien. Wenn er denn bei den Menschen beliebt ist, oder zumindest bekannt.
Parteien engagieren professionelle Werbeagenturen für ihre Kampagnen. Zuvor analysieren sie ihre Wählermilieus mit Daten aus der Marktforschung. Die Werber, die sonst Anzeigen für Autos oder Joghurt machen, entwickeln dann Slogans für mehr Klimaschutz oder stabile Euro-Politik. Zwischen 3,4 und 29 Millionen Euro investierten die Parteien 2009 in ihren Bundestagswahlkampf. Eine Befragung der Hamburger Parteien durch die Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation (MHMK) von 2013 zeigt: Das Wahlplakat nimmt zwischen 18 und 43 Prozent des Gesamtbudgets einer Partei ein.
Allein die SPD hat in diesem Europa-Wahlkampf 300.000 Plakate verteilt und 15.000 Großflächen bedruckt und aufgestellt. Zum Vergleich: Eine kleinere Partei wie die Piraten druckte in den Wochen vor der Wahl 30.000 Plakate. Kleinere Parteien haben in diesem Wahlkampf einen Vorteil: Das Bundesverfassungsgericht kippte die Dreiprozenthürde. Dennoch: Beim Plakatieren ist das Budget der Kleinen für Kampagnen auch klein.
Ein Nachteil? Wie effektiv sind die Plakate? In verschiedenen Umfragen wird deutlich, dass viele Bürger eher genervt auf die Slogans am Straßenrand reagieren. Mehr als zwei Drittel der Deutschen sagen, dass sie Wahlplakate für überflüssig halten. In anderen Umfragen ist der Anteil der Kritiker unter den Bürgern zwar kleiner als 50 Prozent, aber dennoch immer noch hoch. Hinzu kommt: 100 Prozent der Befragten in der Studie der Hamburger MHMK gaben an, noch nie eine Partei aufgrund eines Wahlplakats gewählt zu haben. Als Informationsquelle reiht sich das Wahlplakat an zweiter Stelle hinter dem Fernsehen ein.
Und dennoch investieren die Parteien Geld und Gedanken in ihre Plakate. Zu wenig? Viele Plakate sehen ähnlich aus. Egal, ob sie konservative oder linke Politik vertreten. Oftmals lächelt der Spitzenkandidat vom Foto am Straßenrand, oder aber es lächelt die Parteichefin, oder es lächelt eine unbekannte Familie, die ihr Gesicht der Partei und ihrer Kinderpolitik schenkt. Immer wieder tauchen die gleichen Wörter auf: Chancen, Gerechtigkeit, Mensch, Stabilität, aber auch Adjektive wie sozial, gemeinsam und stark. Die Farbe „Orange“ hat Konjunktur – ob bei SPD oder CDU. Blickt der Bürger an den immer gleichen Motiven vorbei? Dabei sollen Plakate doch abgrenzen, die eine Partei von der anderen, die Forderung nach Datenschutz von der Forderung nach Klimaschutz.
Doch in der Sprache lässt sich eine Strategie erkennen: Die Außenseiter versuchen es mit Alternativen. „Wir wollen keine Abnick-Plakate“, sagt Chan Hin von den Piraten. Auf einem Bild zeigt die Partei die Berliner Mauer mit Stacheldraht, dahinter das Brandenburger Tor. „Grenzen sind so 80er“, steht darauf. Das Plakat ist ein Verweis auf die deutsche Geschichte. „Aber die Themen Grenzkontrollen und Flüchtlingspolitik sind hochaktuell“, sagt der Designer der Piratenpartei. Zur Abschaffung der EU-Grenzschutzagentur Frontext, wie seine Partei im Wahlprogramm fordert, steht auf dem Plakat jedoch nichts. „Wir wollen zum Nachdenken anregen.“
Die etablierten Parteien setzen eher auf traditionelle Bildsprache: Klare Forderungen wechseln mit Schlagwörtern wie „Menschlichkeit“ oder „Sicherheit“. Die Spitzenkandidaten oder Parteichefs kennen die Wähler aus der täglichen Berichterstattung. Immerhin: Kanzlerin Angela Merkel können Wähler neu entdecken: Auf Fotos ist sie in Pop-Art-Pose mit lila Haaren zu sehen. Nicht auf Plakaten am Straßenrand, sondern nur im Internet.