Der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) hält das Vorhaben seiner eigenen Partei für einen schweren Fehler – und spricht sich stattdessen für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit bis 70 aus.
Berlin. Gemeinsam mit der SPD dreht die Union gerade die Rentenreformen der vergangenen Jahre zurück. Noch in diesem Jahr soll die Rente mit 63 in Kraft treten. Der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) hält das Vorhaben seiner eigenen Partei für einen schweren Fehler – und spricht sich stattdessen für eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit aus. „Wir haben einen Fachkräftemangel und müssen in den nächsten Jahren über die Rente mit 70 sprechen“, sagte Oettinger. „Wir müssen Menschen mit beruflicher Weiterbildung fit machen für eine längere Lebensarbeitszeit.“
Union und SPD hatten sich in den Koalitionsverhandlungen auf die Einführung der Rente mit 63 geeinigt. Bislang konnten lediglich Versicherte, die mindestens 45 Jahre in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert waren, mit 65 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen. Zukünftig sollen Versicherte nach 45 Jahren bereits mit 63 abschlagsfreie Altersbezüge erhalten. Oettinger sagte, die Rente mit 63 sei auch ein „falsches Signal“ nach außen. „Wir muten den Griechen mehr Arbeit bei schlechterem Gehalt zu. Die wundern sich jetzt, dass die Deutschen in die andere Richtung unterwegs sind.“ Während der europäischen Schuldenkrise hatten viele Euro-Staaten, darunter auch Griechenland, das Renteneintrittsalter erhöht.
Ökonomen unterstützen Oettingers Forderung. „Es ist richtig, dass sich EU-Kommissar Oettinger die Forderung nach einem allgemeinen Renteneintritt ab 70 zu eigen gemacht hat“, sagt Klaus Zimmermann, Chef des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA). „Mit der Rentenparty, die die deutsche Bundesregierung gerade auf Kosten der jungen Generation vorbereitet, gibt Deutschland in Europa seinen Anspruch auf Führung in rentenpolitischen Zukunftsfragen auf.“ Auch wenn die Rente mit 70 erst in einigen Jahrzehnten Realität werden würde, könnte dies Europa vor vielen Belastungen und schmerzlichen Anpassungsprozessen – wie etwa den ruinösen Kampf um Fachkräfte – bewahren, sagte der Arbeitsmarktexperte.
„Durch die steigende Lebenserwartung und die demografische Wende ist die Frage der Rente mit 70 unausweichlich“, sagt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Wegen der Alterung der Gesellschaft müsste die heute jüngere Generation in Deutschland entweder später als mit 67 in Rente gehen können, höhere Beiträge zahlen oder eine geringere Rente erhalten. „Wir sollten das Rentensystem so reformieren, dass die Menschen eine wirkliche Wahl haben. Die, die gerne länger arbeiten möchten, sollten bereits heute die Möglichkeit haben, dies zu tun“, fordert Fratzscher.
In die gleiche Kerbe schlägt auch Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln). „Das Problem der Fachkräftesicherung bei Gesundheit, Bildung und mathematischen und ingenieurwissenschaftlichen Berufen kann nur gelöst werden, wenn das Rentenzugangsalter steigt“, sagt Hüther. Zuwanderung, ein niedrigeres Berufseinstiegsalter und eine geringere Teilzeitquote allein würden nicht reichen. Deshalb müsse es nach 2029 und der Umsetzung der Rente mit 67 beim Renteneintrittsalter weiter nach oben gehen. „Es wäre mit Blick auf die individuellen Lebensmöglichkeiten geradezu unverantwortlich, dies nicht zu tun.“
Gewerkschaften und Sozialverbände lehnen eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters hingegen ab. Viele Arbeitnehmer seien gesundheitlich nicht in der Lage, bis in ein so hohes Alter zu arbeiten. Außerdem fürchten sie eine sich verschärfende Altersarmut, da Arbeitnehmer mit Anfang 60 ihren Arbeitsplatz verlieren könnten und dann wegen der Rente mit 67 hohe Abschläge hinnehmen müssten. Gewerkschaften halten zudem das Argument vieler Ökonomen, dass ein höheres Renteneintrittsalter wegen der demografischen Entwicklung unumgänglich sei, für nicht stichhaltig: Sie argumentieren, das Rentensystem könne trotz der Alterung der Gesellschaft finanziert werden, weil die Produktivität der Arbeitnehmer steige – und sie deshalb in der Lage seien, mehr Rentner finanzieren zu können.
Auch der Hamburger SPD-Bürgerschaftsfraktionschef Andreas Dressel ist gegen Oettingers Forderung. „Diese Idee ist abwegig“, sagt Dressel. „Es ist gerade gelungen, im Rentensystem zu einem Konsens zu gelangen.“ Das sei ein hohes Gut. „Nun muss es darum gehen, diesen Konsens umzusetzen“, sagte der SPD-Politiker.
Scharfe Kritik an Oettingers Vorstoß übte Linkspartei-Vorsitzender Bernd Riexinger: „Solange aus Brüssel so ein durchgeknallter Schwachsinn kommt, muss man sich nicht wundern, wenn viele Bürger mit Skepsis auf die EU schauen“, sagte Riexinger dem Abendblatt. Oettingers „Gequatsche“ schüre den „Unmut über die Bürokraten in der EU, die keine Ahnung von den Nöten normaler Arbeitnehmer haben“. Riexinger hob hervor: „Wir haben hier schon unsere eigenen Rentenräuber.“ Zwei Jahrgänge dürften mit 63 Jahren in Rente, „alle unter 50 erst mit 67 Jahren und dazu noch mit 20 Prozent weniger Rente“. Wenn man ständig den Durchschnittsverdienern das Recht auf eine anständige Rente abspreche, dann gibt es „irgendwann Rentenunruhen“.
Die FDP will mit einem eigenen Konzept zur Rentenreform Flagge zeigen. „Wir favorisieren das schwedische Modell, nach dem im Alter zwischen 60 und 70 Jahren Arbeitnehmer mit ihrem Arbeitgeber frei miteinander vereinbaren können, wann sie aufhören oder in welcher Form sie in Teilzeit übergehen“, sagte FDP-Vize Wolfgang Kubicki. Auf dem Bundesparteitag Anfang Mai werde es den ersten für die Öffentlichkeit sichtbaren Aufschlag einer neuen FDP geben. „Auch wir meinen, dass Menschen, die 45 Jahre hart gearbeitet haben, in Rente gehen dürfen und können“, sagte Kubicki. „Wir sind anders als Sozial- und auch Christdemokraten aber der Auffassung, dass die Menschen darüber in einer freiheitlichen Welt selbst entscheiden können.“