Jobcenter erstellt Broschüre für Hartz-IV-Empfänger. Sinnvolle Tipps oder Bevormundung? Es geht um die Frage, wie viel Staat der Mensch braucht.
Kreis Pinneberg. Eigentlich geht es nur um eine Broschüre, 112 Seiten lang. Es ist die gezeichnete Geschichte der Familie Fischer aus Barmstedt. Der Vater Knut, die Mutter Sylvia, der Sohn Ben und die Tochter Lara. Es ist die erfundene Erzählung einer deutschen Hartz-IV-Familie. Der Vater ist arbeitslos, die Mutter hat nur einen Mini-Job. Ausgedacht hat sich das Leben der Fischers das Jobcenter in Pinneberg. Es ist ein gemalter Ratgeber für Menschen ohne Arbeit, Menschen, die jeden Monat Geld von eben diesem Jobcenter bekommen. Je nach Satz sind es zwischen 300 und knapp 400 Euro. Tipps für die sparsame Ernährung, günstiges Wohnen, einen Garten, der wenig kostet – darüber wird informiert. Empfohlen wird aber auch, sich ab und an vegetarisch zu ernähren, um Kosten zu senken, einen Teil der Möbel zu verkaufen oder einen Stein in den Spülkasten der Toilette zu legen, um Wasser zu sparen.
Es sind 112 Seiten, über die nun auch Politiker, Hartz-IV-Empfänger und Sozialverbände bundesweit streiten. Es war ein einfacher Ratgeber, aber es geht nun auch darum, wie stark der Staat seine Bürger erziehen darf. Darum, wem er Tipps für den Lebensalltag geben soll. Die Broschüre des Jobcenters hat eine Debatte um soziale Gerechtigkeit ausgelöst, über den Zusammenhalt der Gesellschaft und wer mit wie viel Geld daran teilnehmen kann. Kritiker regen sich über die Sparempfehlungen auf, Betroffene fühlen sich diskriminiert. Befürworter sehen darin wichtige Hilfe für Menschen mit wenig Geld. Sogar nützliche Tipps für jeden Verbraucher, nicht nur Arbeitslose.
Wer mit einem Staatsrechtler spricht, hört vor allem eines: Gelassenheit. Aus rechtlicher Sicht greife die Behörde nicht in das Leben eines Hartz-IV-Empfängers ein. Ratschläge für den Alltag seien keine staatlichen Verordnungen. Niemand werde gezwungen, seine Möbel zu verkaufen und gegen günstige einzutauschen, von niemandem werde verlangt, Leitungswasser zu trinken statt Selters. Aus Sicht der Rechtsphilosophen ist das nur eine Aufklärungskampagne. Und dafür sei genau der Staat zuständig.
Auch Brigitte Pothmer, Arbeitsmarkt-Expertin der Grünen im Bundestag, findet „viele anschaulich und gut aufbereitete Informationen – wie etwa den Hinweis, dass sich Arbeitslosengeld-II-Bezieher von den Rundfunkgebühren befreien lassen können“. Solange Menschen informiert und nicht bevormundet würden, sehe sie kein Problem. Aber die Grünen-Politikerin sagt auch: „Wenn ein Mangel an finanziellen Mitteln den Menschen diese Freiheit nimmt, dann stimmt etwas nicht.“ Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass die Regelsätze ausreichend seien, wenn man nur genug spart. Pothmer: „Das Geld, dass die betroffenen Menschen zur Verfügung haben, deckt das Existenzminimum nicht.“ Darum wirke es wie Hohn, wenn eine Behörde den Hilfebedürftigen einen bestimmten Lebensstil vorschreiben möchte.
Auf Nachfrage des Hamburger Abendblatts heißt es im Bundesarbeitsministerium nur, man schließe sich der Position der Bundesagentur für Arbeit an. Und deren Vize-Chef Heinrich Alt twitterte begeistert: „Jobcenter Pinneberg hat einen tollen ALG-II-Ratgeber herausgegeben.“ Die Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg ist angesichts des Proteststurms, den der Ratgeber ausgelöst hat, ratlos. „Die Pinneberger Broschüre ist erst ein paar Tage auf dem Markt. Die reflexartige Kritik verunsichert uns“, sagt Anja Huth. „Wir wollen ja, dass die Jobcenter Ideen entwickeln und sich Gedanken machen, wie sie auf die Menschen zugehen.“ Das hätten die Mitarbeiter im Kreis Pinneberg getan. Jetzt hagele es dafür Schelte. „Es war ein Versuch. Ich kann verstehen, wenn sich die Jobcenter mit ihren Initiativen aufgrund dieser Erfahrung künftig zurückhalten.“
Zudem spiegele sich in der Diskussion um den Inhalt der Pinneberger Broschüre eine Doppelmoral wider. „Wenn die Stiftung Warentest Spartipps veröffentlicht, ist das normal. Gibt ein Jobcenter Ratschläge, sind sie diskriminierend. Das ist absurd.“ Durch eben diese Unterscheidung des Absenders der Empfehlungen stempele man Hartz-IV-Empfänger ab. Ist das Jobcenter nur eine staatliche Verbraucherzentrale? „Natürlich sind wir angesichts der Kritik nicht belustigt“, sagt Jörg Kregel, Sprecher des Jobcenters Pinneberg. „Aber wir werden uns nicht beleidigt zurückziehen, sondern uns der Diskussion stellen.“ Die Broschüre sei als Ratgeber gedacht.
Das Arbeitsministerium sieht Verantwortung bei einigen Medien. Bei der Debatte um die Broschüre seien „auch Missverständnisse, Fehlinterpretationen und Verkürzungen adressiert sowie offenbar notwendige Differenzierungen vorgenommen worden“, sagt ein Sprecher. Die Reaktionen der Politik zeigen auch: Der Umgang des Staates mit Hartz-IV-Empfängern ist ein sensibles Thema, eine heikle Debatte, gerade in Zeiten des Wahlkampfs. Es gibt kein klares Gut und Böse.
„Nach dem lauten Echo in den Medien haben uns viele Kunden auf die Broschüre angesprochen, das Interesse ist jetzt sehr groß“, sagt Jörg Kregel. Die Reaktionen hielten sich die Waage. Einen Sturm der Entrüstung habe es unter den Kunden nicht gegeben.
Bei Alfred Jensen klingt das anders. „Das ist reinster Hohn“, sagte der Pinneberger. Jensen, gelernter Maschinenbauer, ist als Hartz-IV-Empfänger Adressat der Sparvorschläge und empfindet die Aussagen der Broschüre als beleidigend. Michael Nehls, Hartz-IV-Empfänger aus Hamburg, schließt sich Jensen an: „Als Betroffener empfinde ich die Ratschläge in der Broschüre teils als Verletzung der Menschenwürde. Der Hinweis auf Fleischverzicht ist angesichts der aktuellen Lebensmittelpreise speziell für Gemüse und das Grundnahrungsmittel Kartoffel geradezu zynisch.“
Mittlerweile haben 300.000 Menschen die Broschüre heruntergeladen
Auch auf Facebook wird über die Ratschläge des Pinneberger Jobcenters diskutiert. „Unglaublich“, kommentiert Roland M. den Ratgeber. „Die Broschüre ist das allerletzte“, sagt Michael Sch. Doch das Heft findet auch Freunde im Internet. „Worüber regen sich hier alle auf?“, fragt Janina K. auf Facebook. „Es sind Tipps und keine Voraussetzungen, um Hartz IV zu bekommen. Und ganz ehrlich. Ich gehe arbeiten und muss trotzdem sparen und bin für solche Tipps teilweise echt dankbar.“
Der Pinneberger Bundestagsabgeordnete und CDU-Staatssekretär im Innenministerium, Ole Schröder, nennt die Broschüre „vernünftig“. Der Text sei verständlich und helfe dem Bürger, bürokratische Formulare zu verstehen. Er plädiere schon seit Jahren für eine verständliche Sprache der Behörden gegenüber den Bürgern. „Wenn eine Verbraucherzentrale ähnliche Spartipps gegeben hätte, regt sich niemand auf“, sagte Schröder dem Abendblatt.
Klar ist: Die Broschüre polarisiert, sie hat eine Debatte angestoßen über Menschen in Armut, den helfenden Staat und den Umgang miteinander. Und die Broschüre wird gelesen. Vor ein paar Tagen waren es nur ein paar Hundert Internetnutzer, die auf den Download klickten. Am Freitag waren es mehr als 300.000.