Mehr als 128.000 Jobber sind älter als 74. Sozialverbände fordern Rücknahme der Reformen. Debatte um offizielle Zahlen zur Altersarmut in Deutschland.
Hamburg/Berlin. Wegen der sinkenden Zahlungen aus der gesetzlichen Rente hat sich eine neue Debatte um Altersarmut in Deutschland entwickelt. Nach einer Statistik der Rentenversicherung Bund erhielt im Jahr 2012 fast jeder zweite Rentner (48 Prozent) weniger als 700 Euro. Das wäre eine Summe, die unter dem liegt, was Senioren in der Grundsicherung („Hartz IV im Alter“) inklusive Miete durchschnittlich zur Verfügung haben.
Der Präsident des Sozialverbandes SoVD, Adolf Bauer, sagte „Die aktuellen Zahlen lügen nicht. Die Altersarmut ist in Deutschland auf dem Vormarsch. Vor diesem Hintergrund ist es unfassbar, dass die Koalition in der letzten Woche ein fest versprochenes Hilfspaket beerdigt hat.“
Die Rentenversicherung erklärte dagegen: Die Mini-Renten seien kein Hinweis auf gestiegene Altersarmut. Nach wie vor seien lediglich zwei Prozent der Altersrentner über 65 Jahren neben ihrer Rente auf zusätzliche Grundsicherung im Alter angewiesen. „Die Rentenhöhe alleine kann keine Auskunft über die Einkommenslage von Rentnerhaushalten geben.“ Dass so viele Renten unter dieser Grenze lägen, beruhe zu einem erheblichen Anteil darauf, dass Versicherte nur kurze Zeit in die Rentenkasse eingezahlt hätten.
„Hierzu zählen etwa Selbstständige, Hausfrauen und Beamte, die nur kurz rentenversicherungspflichtig gewesen sind“, hieß es in einer Mitteilung. Nach dem Alterssicherungsbericht 2012 der Bundesregierung werden geringe Rentenbeträge „in der Regel“ durch das Einkommen des Ehepartners oder aus einer privaten oder betrieblichen Altersvorsorge ausgeglichen.
In Hamburg gibt es rund 32.000 Menschen, die von der Grundsicherung leben müssen. Die Quote liegt damit gut doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Und es gibt offenbar eine versteckte Altersarmut, die laut Sozialverbänden vor allem in Großstädten zu beobachten ist. Das hat in erster Linie mit gestiegenen Mieten und hohen Lebenshaltungskosten zu tun.
Verbände fordern Erhalt des Rentenniveaus
Sozialverbände und die Linke fordern, dass das gesetzliche Rentenniveau (Durchschnittsrente im Verhältnis zum Durchschnittslohn) nicht weiter abgesenkt werden darf. Derzeit beträgt es 51 Prozent, soll aber bis 2030 auf 43 Prozent fallen können. Hintergrund ist die private Altersvorsorge, die der Staat jedes Jahr mit Milliarden Euro für Riester-, Rürup- und Betriebsrenten fördert. Die Eigenvorsorge für den Ruhestand ist politisch gewollt. Allerdings sinken wegen der niedrigen Zinsen die Erträge. Viele Riester-Sparer und Kunden mit Kapitallebensversicherungen fürchten um ihre Renditen.
Der rentenpolitische Sprecher der Linken im Bundestag, Matthias Birkwald, forderte einen Kurswechsel: „Die Absenkung des Rentenniveaus war aber längst nicht die einzige Fehlentscheidung der vergangenen Jahre, die Altersarmut verursacht. Auch die Einführung der Rente erst ab 67 war ein Rentenkürzungsprogramm.“ Nicht einmal zehn Prozent der 64-Jährigen seien heute in Vollzeitbeschäftigung.
Dagegen steigt offenbar der Anteil der Rentner, die einem Mini-Job für 450 Euro im Monat nachgehen. Nach neuen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) gibt es 812.000 Mini-Jobber, die über 65 Jahre alt sind. Mehr als 128.000 von ihnen waren älter als 74. Vor zehn Jahren hatten laut BA 595.433 Senioren einen Minijob, davon 77.081 älter als 74.
Bei dieser Personengruppe ist nicht klar, wer für den Lebensunterhalt arbeiten muss und wer es aus freien Stücken tut. In Zukunft dürfte sich dieser Kreis noch ausweiten. Denn durch gebrochene Arbeitsbiografien, Zeiten von Kindererziehung und Arbeitslosigkeit wird der Anteil sinken, den die gesetzliche Rente zum Lebensunterhalt beiträgt. Zugleich steigt die Lebenserwartung, und die 65-Jährigen von heute sind in der Regel fitter als ihre Altersgenossen vor zehn oder 20 Jahren.
Die hohe Zahl der Mini-Jobber lässt sich außerdem mit neuen gesetzlichen Regelungen erklären. Beispielsweise wurde die legale Beschäftigung von Mitarbeitern im Haushalt in den vergangenen Jahren erleichtert. In Hamburg stieg die Zahl der Haushaltsbeschäftigten im Rentenalter von 2011 auf 2012 um 8,3 Prozent. Allerdings ist Hamburg auch die Stadt der arbeitswilligen Rentner. So klagte ein Mitarbeiter der Hochbahn vor drei Jahren dagegen, dass er mit 65 in Rente sollte. Das Arbeitsgericht entschied, dass der Mann weitermachen dürfe.