Chef der Techniker Krankenkasse fordert Systemwechsel im Gesundheitswesen. Gesetzliche Versicherung trotz Milliardenreserven unter Druck.
Hamburg/Berlin. Er war lange Jahre Unternehmensberater und hat als Arzt im Gesundheitswesen den erforderlichen Durchblick. Doch jetzt hat Jens Baas eine Debatte vom Zaun gebrochen, die zum Wahlkampfschlager werden könnte: Der Vorstandsvorsitzende der in Hamburg beheimateten Techniker Krankenkasse will die private Krankenversicherung (PKV) abschaffen. Die Privatversicherer dürften keine neuen Kunden mehr aufnehmen, außer für Zusatzversicherungen, und die Kunden sollten entweder bleiben oder mit ihren Altersrückstellungen in die gesetzlichen Kassen übergehen.
Einen so rabiaten Vorschlag aus dem Lager der Gesetzlichen, und zudem von einem so prominenten Kassenfürsten, hat es lange nicht gegeben. Baas sagte der Nachrichtenagentur dpa: "Die PKV passt nicht in unser System. Wir sollten sie abschaffen." Die Revolte, die Baas anzettelt, kommt mit Kalkül. In diesen Tagen haben die knapp neun Millionen Vollmitglieder der privaten Versicherer ihre Bescheide über die neuen Prämien für 2013 bekommen. Wie beinahe jedes Jahr steigen sie. Ein Plus von sieben bis zehn Prozent rechnen Experten hoch.
Die Hamburger Verbraucherberatung Widge.de berichtet von steigendem Beratungsbedarf für Tarifwechsel innerhalb der PKV. Doch das muss nicht in allen Fällen nötig werden. Bisweilen fällt der Anstieg der Prämien bei bestehenden Tarifen auch moderat aus. Durch die neuen Unisex-Tarife, die alle Gesellschaften anbieten müssen, ist die Verwirrung um die Kostensteigerung in der PKV aber noch unübersichtlicher geworden. Einige Unternehmen warten mit der Prämienanpassung offenbar bis zum Ende des ersten Quartals 2013.
Der Verband der Privatversicherer ist über den Vorstoß des TK-Chefs verschnupft. Sein Sprecher Stefan Reker sagte dem Abendblatt: "Wenn ein Krankenkassen-Chef es nötig hat, die Abschaffung aller privaten Wettbewerber zu fordern, fällt das auf ihn selbst zurück. Offenbar will er davon ablenken, dass die Umlagefinanzierung der Krankenkassen durch den demografischen Wandel bald an ihre Grenzen stößt. Umso wichtiger ist die kapitalgedeckte Säule der privaten Krankenversicherung für die Stabilität unseres Gesundheitssystems."
Damit spielt Reker auf die Reserven der gesetzlichen Kassen an, die sich zu wahren Geldspeichern aufgetürmt haben. Das führte sogar dazu, dass Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) unter anderem die TK - Deutschlands zweitgrößte gesetzliche Kasse - unter Druck setzte, eine Prämie auszuzahlen. 80 Euro im Jahr sollen künftig die Versicherten erhalten, die von Mai bis Ende nächsten Jahres bei der TK Kunde sind. Zudem entfällt zum 1. Januar die Praxisgebühr, die die ehemals Not leidenden Kassen stützen sollte.
Heute stehen 14 Milliarden Euro Überschuss bei den Kassen plus 9,5 Milliarden Plus im Gesundheitsfonds zu Buche. Trotzdem bangen die Gesetzlichen um ihre Haushalte. Der Grund liegt vor allem in der alternden Bevölkerung. Die demografische Entwicklung wird höhere Ausgaben im Gesundheitswesen nach sich ziehen. Außerdem verlangen Ärzte, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen deutlich mehr Geld.
PKV-Sprecher Reker sagte: "Die angeblichen Rekordüberschüsse der gesetzlichen Krankenkassen reichen gerade mal für die Ausgaben von sieben Wochen, der Kapitalstock der privaten Krankenversicherung hingegen entspricht mehr als sieben Jahresausgaben. Mit insgesamt 170 Milliarden Euro Alterungsrückstellungen ist die private Krankenversicherung gut auf den demografischen Wandel vorbereitet."
Im Bundesgesundheitsministerium rechnet niemand mit dem Ende des Geschäftsmodells PKV. Solange in Daniel Bahr ein Liberaler das Haus führt, ist ohnehin nicht mit einem Systemwechsel zu rechnen. Das Bundesverfassungsgericht müsste sich in jedem Fall mit einer möglichen Abschaffung der PKV befassen. Denn davon wären enorme Verschiebungen von Versicherungsvermögen betroffen. Außerdem sind nicht nur Selbstständige, sondern auch Millionen Beamte und ihre Familien Kunden der PKV.
Die Privaten verweisen darauf, dass ihre Kunden schneller Termine bei Fachärzten und die modernste Versorgung bekommen, mehr Wahlfreiheit genießen und über die Altersrückstellungen für höhere Gesundheitskosten im Alter vorsorgen. Kritiker bemängeln, dass ein Ausstieg aus der PKV bei steigenden Prämien kaum möglich ist. Zwar gibt es den sogenannten Basistarif. In den können ältere Privatversicherte wechseln, wenn ihr Tarif zu teuer wird. Dieser Tarif kann jedoch auch bis zu 600 Euro im Monat betragen und gewährt womöglich bei Weitem nicht mehr die Leistungen, mit denen junge Versicherte gelockt werden. Ein Wechsel in die Gesetzliche ist außerdem möglich, wenn man als Angestellter über mehrere Jahre unterhalb der Versicherungspflichtgrenze von rund 50.000 Euro brutto im Jahr verdient.
Die Spannungen innerhalb der Krankenversicherung dürften im Zuge des Bundestagswahlkampfes zunehmen. SPD, Grüne und Linke peilen eine Bürgerversicherung an. Dort hinein sollen nach verschiedenen Modellen künftig alle Bürger mit allen Einkommen einzahlen, also nicht nur mit Löhnen, sondern auch mit Kapitalerträgen. Die Zukunft der Privaten wäre fraglich.
Offensichtlich stehen selbst gesetzliche Kassen diesen Plänen skeptisch gegenüber, wie aus dem AOK-Lager zu hören ist. An eine Abschaffung der Privatversicherer mag auch Prof. Norbert Klusen nicht glauben. Er war vor Jens Baas Vorstandschef der Techniker Krankenkasse. Der "Euro am Sonntag" sagte Klusen kürzlich: "Die Privaten wird es auch in 20 Jahren noch geben."