Nach dem Sieg des Grünen Fritz Kuhn in Stuttgart sorgt sich die Union ein Jahr vor der Bundestagswahl um ihre Großstadtkompetenz.
Hamburg/Stuttgart. Konstanz, Tübingen, Freiburg machten den Anfang. Universitätsstädte, in denen plötzlich Grüne zum Bürgermeister gewählt wurden. Keine Aufregung, dachten sich die Strategen in den Volksparteien. So sind halt die Milieus, in denen die Zugezogenen die ehemaligen CDU- und SPD-Hochburgen im wirtschaftlich starken Baden-Württemberg durcheinanderwirbelten.
Doch nach mehr als 60 Jahren CDU-Herrschaft ist jetzt nicht nur mit Winfried Kretschmann ein Grüner Ministerpräsident. Auch in den Rathäusern hat sich die Öko-Partei als Konkurrenz auf Augenhöhe zu Union und SPD etabliert. Der Wahlsieg von Fritz Kuhn in Stuttgart über den parteilosen, aber sogar von Kanzlerin Angela Merkel unterstützten Sebastian Turner wirkt wie ein Fanal. Die CDU sorgt sich ein Jahr vor der Bundestagswahl um ihre Großstadtkompetenz. Die Christdemokraten stellen in den 20 größten deutschen Städten nun nur noch in Düsseldorf, Dresden und Wuppertal den Oberbürgermeister.
Die parteiintern bereits mit einer Analyse und einem Strategiepapier beauftragten Unionisten wie der Hamburger CDU-Landeschef Marcus Weinberg und sein Bundestagskollege Matthias Zimmer tüfteln noch. Weinberg sagte dem Abendblatt: "Vor vier Jahren hatten wir in Hamburg mit Ole von Beust noch 42 Prozent. Die CDU sollte deshalb jetzt nicht in eine Urpanik der Unmöglichkeit von Wahlsiegen verfallen, zumal Stuttgart unter den Stuttgarter Besonderheiten zu sehen ist."
Dennoch solle sich die Partei denen öffnen, die eher kulturell und sozialökologisch orientiert" seien. "Dabei brauchen wir unsere Kernkompetenz in Fragen von Sicherheit und Wirtschaft nicht aufzugeben. Diese traditionellen Kernkompetenzen müssen mit den neuen Themen der Stadt wie Integration oder Qualifizierung kombiniert werden." Externer Sachverstand sei willkommen. Damit zeige man, wie sehr man "das urbane Denken und Lebensgefühl" stärker integriere. Denn ein Problem der Partei sei "die zu starke Innensicht".
CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sprach nach der Vorstandssitzung in Berlin von einer "bleibenden Herausforderung", die Mehrheit der Großstadtbürger zu gewinnen. Der Stuttgarter Kreischef Stefan Kaufmann sagte, der Grund für die Niederlage sei vermutlich nicht allein in Stuttgart zu suchen. Die CDU habe das generelle Problem, die "großstädtischen Milieus" zu erreichen, die Alleinerziehenden, Kulturschaffenden und Menschen mit ausländischen Wurzeln.
Die Millionenmetropolen sind allesamt in Genossen-Hand: Berlin, Hamburg, München, Köln. Auch in Frankfurt am Main hat ein SPD-Mann die langjährige CDU-Bürgermeisterin Petra Roth abgelöst: Peter Feldmann. Vor allem in Baden-Württemberg und Bayern wiederum haben die Grünen gegenüber der SPD stark aufgeholt. Der Landeschef der CDU im Südwesten, Thomas Strobl, sagte: "Die großen Städte sind für die CDU insgesamt ein schwieriges Pflaster geworden. Wir tun uns im Moment schwer, das Lebensgefühl der Menschen dort zu treffen." Die CDU müsse den Weg der Öffnung und gesellschaftspolitischen Modernisierung konsequent weitergehen. "Das wird kein Sprint, sondern das ist ein Marathonlauf", sagte er.
Der Politikwissenschaftler Oscar Gabriel sieht die CDU in Baden-Württemberg vor einer langen Durststrecke. Während sie nicht aus dem Schatten von Ex-Ministerpräsident Stefan Mappus herauskomme, sei es den Grünen in der Landesregierung gelungen, Vorbehalte konservativer Wähler zu zerstreuen: "Da wird es für die CDU langfristig sehr schwer werden, wieder eine Alternative aufzubauen."
Noch schlechter sehe es für die SPD aus, die jetzt überhaupt wieder ihren Platz finden müsse. Bei der OB-Wahl in der Landeshauptstadt war die von der SPD aufgestellte Kandidatin Bettina Wilhelm (parteilos) im ersten Wahlgang mit 15,1 Prozent abgeschlagen auf dem dritten Platz gelandet und hatte ihre Kandidatur dann zurückgezogen. "Es zeichnet sich deutlich ab, dass sich die politischen Auseinandersetzungen in Baden-Württemberg in erster Linie zwischen der CDU und den Grünen abspielen werden", sagte Gabriel.
Die Grünen gingen nun mit Rückenwind in das Bundestagswahljahr und die Landtagswahlen von Niedersachsen und Bayern, sagte Parteichefin Claudia Roth. Baden-Württemberg sei auch ein Beispiel dafür, "was in Bayern möglich wäre". Kuhn sagte in Stuttgart, er plane, rasch den Ausbau der Kinderkrippen voranzutreiben und den Feinstaub zu begrenzen. "Da muss mehr Tempo ran." Unter anderem will der frühere Fraktionschef im Bundestag die bisher beschlossene Versorgung von 46 Prozent bei der Kleinkindbetreuung bis 2014 noch verbessern.