Der Finanzminister dringt vor EU-Gipfel auf echte Reformen. Begeisterung weckt er damit nicht - weder in Brüssel noch in Berlin oder Paris.
Berlin. Der deutsche Finanzminister löste unmittelbar vor dem EU-Gipfel in Brüssel allerhand Verwirrung aus: Durchgriffsrechte für einen mächtigen Währungskommissar auf nationale Haushalte, ein gestärktes Parlament, tief greifende Reformen, rasche Vertragsveränderungen und einen Konvent noch in diesem Jahr - das sind die Forderungen Wolfgang Schäubles (CDU).
Der Mann, der sonst stets gegen immer neue öffentliche Vorschläge zur Lösung der Euro-Schuldenkrise wettert, preschte dieses Mal selbst vor. Er war sich dabei der erwarteten Turbulenzen durchaus bewusst, denn es ist eine Kampfansage nicht nur an Brüssel und an die notorisch europaskeptischen Briten, sondern auch an die eigenen Reihen und an die Verfassungsrichter in Karlsruhe. Vor allem Brüssel ist irritiert, aber auch mancher Koalitionär in Berlin und München.
Einen Tag später rudert zwar niemand offiziell zurück, aber ganz so brandheiß erscheint der Vorstoß des überzeugten Europäers nun doch nicht mehr. Zumal Schäuble seinen Plan bereits den europäischen Ministerkollegen vorgestellt hatte. Nur, es reagierte niemand der Euro-Partner darauf. Was Schäuble womöglich bewog, seine bisherige Kommunikationsstrategie über Bord zu werfen. "Keinen Dissens" gebe es mit Angela Merkel, heißt es aus der Regierung, die Kanzlerin habe "exakt die gleiche Analyse", wird betont. Und natürlich werde sie Schäubles Vorschläge beim Gipfel in Brüssel einbringen.
Wer genauer hinhört, spürt auch etwas anderes: Der EU-Gipfel heute und morgen werde keine Entscheidungen treffen, heißt es, er sei eher eine Zwischenetappe auf dem Weg zum wirklich wichtigen Treffen der Staats- und Regierungschefs im Dezember. Und im Übrigen: Schäuble sei ein preisgekrönter Europäer, der eben grundsätzlich und langfristig denke. Mit anderen Worten: Schau'n wir mal. Dabei hatte Europa-Visionär Schäuble ganz unmissverständlich einen EU-Konvent der 27 Staaten noch in diesem Jahr vorgeschlagen, um notwendige Vertragsänderungen zu beschließen. Zu dem Konvent wird es aber nach übereinstimmenden Einschätzungen in Berlin und Brüssel wohl nicht kommen, jedenfalls nicht so schnell. Warum also jetzt dieser Vorstoß? Schäuble hat ein klares Motiv. Vielleicht beflügelt durch die Einsicht, dass jede Krise eine Chance zur Veränderung mit sich bringt. So will der Finanzminister den Druck der gegenwärtigen Schwierigkeiten nutzen, um die EU grundlegend zu reformieren. Und er will schnell zu Ergebnissen kommen, um das Vertrauen auch der Anleger und reicher Staatsfonds in die Euro-Zone zu stärken.
Zumal Schäuble alles andere als zufrieden ist mit dem Zwischenbericht der Präsidenten von Kommission, Rat, Euro-Gruppe und EZB zur Weiterentwicklung der Währungsunion. Das Papier der vier Präsidenten soll beim Gipfel diskutiert werden, ist Schäuble aber zu vage, nicht weitgehend genug oder geht in die falsche Richtung. So weit können ihm viele noch folgen. Der umstrittene Zwischenbericht ist aber eben auch Ergebnis der Meinungsbildung in Europa und im Euro-Raum. Denn Gipfel-Planer Herman Van Rompuy reiste durch die Hauptstädte. Es kann daher passieren, dass Deutschland mit dem neuen Vorstoß Schäubles einmal mehr isoliert ist in Europa. Auf jeden Fall ist schon mal der französische Präsident François Hollande auf Konfrontationskurs zu Berlin gegangen. Statt eines Durchgriffsrechts in nationale Haushalte verlangt Paris eine Euro-Regierung, in der die Staats- und Regierungschefs das Sagen haben. Diese sollten sich einmal pro Monat treffen, sagte Hollande in einem Interview mit sechs europäischen Tageszeitungen, darunter die "Süddeutsche Zeitung". Der Élysée-Chef fordert "ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, mit verschiedenen Kreisen". Und die Euro-Gruppe solle die "Avantgarde" bilden. Die Währungsunion müsse "eine politische Dimension" erhalten, aufgewertet werden und ihr Chef ein "klares und ausreichend langes Mandat erhalten", sagte Hollande.
Von einer Abgabe von Souveränität an einen Brüsseler Finanzminister will Hollande nichts wissen. Im Gegenteil wirft er Deutschland indirekt vor, mit dem Vorschlag für einen Brüsseler Superkommissar von der Lösung dringender Fragen ablenken zu wollen. "Die institutionelle Herausforderung wird oft angesprochen, damit man keine Entscheidung treffen muss", sagte er. "Diejenigen, die es mit der politischen Union am eiligsten haben, sind manchmal diejenigen mit den größten Widerständen gegen dringende Beschlüsse."
Das richtet sich insbesondere gegen die zögerliche Haltung Berlins beim Aufbau einer zentralen Bankenaufsicht, die strauchelnden Banken direkte Hilfe aus dem Rettungsfonds ESM ermöglichen soll. Hollande bekräftigte sein Ziel, dass dazu "alles bis Ende des Jahres geregelt sein" müsse. Das soll den Startschuss für die Aufsicht zum 1. Januar 2013 ermöglichen. Und an der Stelle hören die Streitpunkte mit Paris nicht auf. "Eine Haushaltsunion muss von einer teilweisen Vergemeinschaftung der Schulden vollendet werden: über Euro-Bonds", fordert Hollande. Und: Die Länder mit einem Haushaltsüberschuss "müssen ihre Binnennachfrage über Lohnerhöhungen und Abgabenkürzungen anregen."