Schweres Versäumnis bei der Aufklärung der NSU-Morde aufgetaucht. Ein mutmaßlicher Mordzeuge beteuert, nichts gesehen zu haben.
Berlin. Je länger die Türen von Saal 4900 verschlossen bleiben, desto klarer wird, dass drinnen etwas passiert sein muss. Um 10 Uhr sollte es eigentlich losgehen mit der öffentlichen Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages, der seit Januar die Morde der Zwickauer Terrorzelle aufzuklären versucht. Doch niemand wird hineingelassen, die am Morgen begonnene interne Sitzung braucht plötzlich viel mehr Zeit.
Um 10.37 Uhr schreibt der schleswig-holsteinische SPD-Parlamentarier Sönke Rix über den Kurznachrichtendienst Twitter: "Die Beratungen und Befragungen im Untersuchungsausschuss NSU werden heute wohl anders als geplant ablaufen." Zu diesem Zeitpunkt weiß Rix bereits, was die Öffentlichkeit noch erfahren wird.
Die nächsten Minuten und Stunden ergeben einen handfesten Skandal: Der Militärische Abschirmdienst (MAD) hat bereits 1995 eine Akte über den späteren Rechtsterroristen Uwe Mundlos geführt. Während seiner Grundwehrdienstzeit bei der Bundeswehr sei er aufgefallen, durch "Hören von Skin-Musik mit teilweise rechtsextremistisch zu wertendem Verhalten", wie es in einer Antwort des Verteidigungsministeriums auf die gezielt gestellte Anfrage des Grünen-Abgeordneten Christian Ströbele heißt. Der Fall sei aufgenommen und an den Bundesverfassungsschutz und drei Landesverfassungsschutzämter übermittelt worden.
Zur Existenz dieser Akte wurde bislang jedoch geschwiegen - obwohl sich der Ausschuss in der Sommerpause beim MAD über die mutmaßlichen Täter informiert hatte. "Ich bin entsetzt", schimpft der Ausschussvorsitzende Sebastian Edathy (SPD) kurz nach 11 Uhr vor den Kameras.
Grünen-Obmann Winfried Wieland spricht von einem "Schockerlebnis". Die MAD-Akte über Mundlos wurde laut Verteidigungsministerium bereits geschreddert. Damit sei die Löschfrist von 15 Jahren eingehalten worden. Die weitergegebenen Unterlagen sind aber noch im Umlauf - und landen auch bei den Ausschussmitgliedern.
Es geht um die Aufklärung von zehn Morden durch den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU). Neun Kleinunternehmer türkischer und griechischer Herkunft wurden zwischen 2000 und 2006 von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, die sich 2011 das Leben nahmen, mutmaßlich mithilfe der in Haft befindlichen Beate Zschäpe getötet. Ein Opfer war der Hamburger Gemüsehändler Süleyman T. Zudem wird dem Trio der Mord an einer Polizistin zugeschrieben. Was aus den neuen Akten über Mundlos auch hervorgeht: Der Rechtsradikale soll vom MAD sogar um Zusammenarbeit gebeten worden sein.
Dass es sich aber um eine Anwerbung als V-Mann handelte, wie es manche Parlamentarier deuten, will MAD-Präsident Ulrich Birkenheier nicht bestätigen. Spontan wird er für 16 Uhr vor den Ausschuss bestellt. "Das MAD-Amt bemüht sich immer, die Akten umfassend und so schnell wie möglich dem Untersuchungsausschuss zukommen zu lassen", sagt Birkenheier, der erst seit 1. Juli 2012 Chef der Behörde ist. Zwar sei Mundlos von MAD-Mitarbeitern gefragt worden, ob er bereit wäre, die Polizei oder den Verfassungsschutz über rechtsextremistische Aktivitäten zu informieren. Dies sei aber kein Versuch gewesen, Mundlos als Informant anzuwerben. So ganz glauben können die Ausschussmitglieder das nicht: "Das wirft viele Fragen auf", meint Wieland nachher. "Unsere Empörung wächst von Stunde zu Stunde, je mehr wir erfahren, was da los gewesen ist."
+++ Info: MAD - der kleinste deutsche Geheimdienst +++
Ähnlich frustrierend verläuft auch die Befragung von Zeuge Andreas T. Seine Rolle bei dem Mord an dem türkischen Internetcafébesitzer Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel lässt viele Fragen offen, die auch heute nicht geklärt werden können. Fest steht: T. war zum Tatzeitpunkt oder Sekunden danach am Tatort, will aber nichts gesehen oder gehört haben. T. war zudem Beamter beim hessischen Verfassungsschutz, zuständig auch für einen V-Mann aus der rechtsextremen Szene. T. selbst hat in seiner Jugend mit braunem Gedankengut sympathisiert, war in einem Schützenverein aktiv. Obwohl er aus den Medien von dem Mord im Internetcafé erfahren hatte, hatte er sich nicht bei der Polizei gemeldet. Aus privaten Gründen, wie er betont: Auf Flirtseiten im Internet sei er unterwegs gewesen, um dort mit anderen Frauen zu chatten, während seine eigene hochschwanger zu Hause saß. Das sollte nicht herauskommen. In allen Vernehmungen und Befragungen erzählt er diese Geschichte, am falschen Tag am falschen Ort gewesen zu sein, sich danach falsch verhalten zu haben statt gleich zur Polizei zu gehen. Mehr nicht. Kann das stimmen?
2007 wurde das Verfahren gegen T. eingestellt - und auch der Untersuchungsausschuss fördert nichts Gegenteiliges zutage, sondern nur noch mehr Fragen. An vieles kann sich T. nicht mehr erinnern, weiß nicht mehr, wann er mit wem über was gesprochen hat. Alles nur ein tragischer Zufall - das ist die Variante, die am Ende der Befragung stehen bleibt. Auch das ist unbefriedigend für die Abgeordneten. "Es bleibt ein Beigeschmack, dass ausgerechnet ein Staatsdiener am wenigsten zur Aufklärung beigetragen hat", sagt Grünen-Politiker Wieland.