Die Parteilinke über Franz Münteferings Ambitionen, Peter Strucks Nachfolge und Lehren aus dem Europawahl-Debakel.
Berlin.
Hamburger Abendblatt: Frau Nahles, am kommenden Sonntag ist Bundesparteitag der SPD. Welches Signal muss von dieser Veranstaltung ausgehen?
Andrea Nahles: Drei Signale sind wichtig: Selbstbewusstsein, Entschlossenheit - und Rückendeckung für unseren Frontmann Frank-Walter Steinmeier.
Abendblatt: Wie soll das gehen nach diesem "Schlag in die Magengrube"?
Nahles: So habe ich das Europawahlergebnis bezeichnet. Aber das ändert nichts daran, dass wir stolz sein können auf das gute Wahlprogramm, das wir in großer Einmütigkeit verabschieden werden.
Abendblatt: Haben Sie neue Antworten auf die Finanzkrise, abgesehen von der Börsenumsatzsteuer, die Sie einführen wollen?
Nahles: Es hat uns in die aktuelle Krise geführt, dass die Wirtschaft sich ausschließlich an der Rendite orientiert. Wir werden im Wahlprogramm deutlich machen, woran wir zukünftig die Qualität des wirtschaftlichen Fortschritts messen wollen und wie wir diese neue Qualität erreichen wollen. Dazu wollen wir die Mitarbeiterbeteiligung an Unternehmen massiv stärken. Es geht nicht, dass die Mitarbeiter in der Krise zur Rettung von Unternehmen Opfer bringen, aber in guten Zeiten von den Gewinnen nicht profitieren.
Abendblatt: Welche Konsequenzen muss die SPD aus dem Desaster der Europawahl ziehen?
Nahles: Wir brauchen mehr Schwung im eigenen Laden. Wir alle sind gefordert zu signalisieren: Wir wollen und wir werden das gemeinsam schaffen. Außerdem müssen wir den Bürgern unser eigenes Programm offensiv nahebringen. Wir haben bisher selber zu wenig darüber geredet.
Abendblatt: Ist die SPD eigentlich noch eine Volkspartei?
Nahles: Ja, und das wird sie auch bleiben. Der entscheidende Punkt ist: Wir sind dazu fähig, den Kanzler zu stellen. Das Wahlergebnis war sicher ein Warnschuss, aus dem wir Konsequenzen zu ziehen haben. Viele unserer Anhänger sind zu Hause geblieben, aber grundsätzlich für uns gewinnbar. Das kann gelingen, wenn wir stärker als bisher klarmachen, wofür wir in der Regierung sorgen - und was der Koalitionspartner unterlässt.
Abendblatt: Sie spielen auf die Opel-Rettung an, die in der öffentlichen Wahrnehmung eher als Leistung der Kanzlerin angesehen wird?
Nahles: Zum Beispiel.
Abendblatt: Was macht Sie so sicher, dass Ihre enttäuschten Ex-Wähler wiederkommen?
Nahles: Wir haben in den letzten sechs Jahren sicherlich bei manchem Vertrauen verloren. Zu viele unserer Anhänger sitzen zurzeit auf der Zuschauertribüne und sind noch ein wenig skeptisch. Sie wandern aber auch nicht zur Linkspartei ab. Diese Menschen wollen umworben werden. Wir können das erfolgreich tun, wenn wir es schaffen, deutlich zu machen, dass die Priorität der SPD der Erhalt jedes einzelnen Arbeitsplatzes ist. Dass wir für wirtschaftliche Zukunftskonzepte stehen, wenn es um die Bewältigung der Krise geht. Und nicht für ein plumpes "weiter so", wie es die CDU will, weil ihr in der Krise nichts Besseres einfällt als "mehr Kapitalismus wagen". Wir brauchen hier eine Zuspitzung, die im Bundestagswahlkampf besser möglich ist als bei der Europawahl.
Abendblatt: Wie nehmen Sie die Stimmung in der Partei wahr?
Nahles: Jedenfalls nicht so schlecht, wie unsere Gegner das gerne hätten. Die SPD ist ein Löwe. Wir sind 146 Jahre alt. 2002 galten wir schon als beerdigt, und 2005 erst recht. Und siehe da? Diese SPD, die hat es trotzdem immer wieder geschafft, den Hintern hochzukriegen. Das wird auch in diesem Jahr so sein, verlassen Sie sich darauf.
Abendblatt: Das ist also die Stimmung in der Partei?
Nahles: Wir haben Selbstbewusstsein, gespeist aus Erfahrung. Und wir wissen, wie schnell sich das Blatt nach so einem Wahlergebnis wenden kann. Unsere Gegner übrigens auch, und davor haben sie Angst.
Abendblatt: Wünschen Sie sich den Wahlkämpfer Schröder manchmal zurück?
Nahles: Alles Gute hat seine Zeit.
Abendblatt: Verfluchen Sie die Agenda 2010 immer noch?
Nahles: Ich fand und finde den Ansatz der Agenda richtig, arbeitslose Menschen zu aktivieren. Nur nicht jedes einzelne Element. Ansonsten gilt: Die Agenda 2010 entscheidet nicht die Bundestagswahl 2009. Es bringt auch nichts, weiter über die Vergangenheit zu debattieren.
Abendblatt: Ihr Genosse Ottmar Schreiner - bekanntlich auch ein Parteilinker - kritisiert, die Generallinie der Partei stimme nicht. Er meint, die Hartz-IV-Reformen wirkten bis heute negativ fort.
Nahles: Diese Auffassung teile ich nicht. Das Wahlprogramm ist im großen Konsens erarbeitet worden. Es ist ein Programm für bessere Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Wir wollen zum Beispiel, dass das Motto "Qualifizieren statt Entlassen" zum neuen Ankerpunkt der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland wird. Das heißt: Wenn wir den Kanzler stellen, werden bundesweit Qualifizierungsberatungen angeboten - und zwar für die, die einen Job haben! Solch innovative Angebote macht sonst keine Partei.
Abendblatt: Wo sehen Sie Stärken bei Steinmeier, mit denen er Merkel gefährlich werden kann?
Nahles: Frank Steinmeier arbeitet an konkreten Lösungen. Und die kann er mit einer enormen Power durchsetzen. Das hat sich in der Bekämpfung der Krise gezeigt. Er ist kein Opportunist, der sich den Mehrheitsmeinungen anpasst. Merkel ist wankelmütig, sie laviert, taktiert und distanziert sich plötzlich von ihren Überzeugungen. Auf sie ist kein Verlass.
Abendblatt: Bislang hat die SPD vom Austausch der Führungsspitze 2008 noch nicht profitiert. Hat sich die Partei davon zuviel versprochen?
Nahles: Es ist nicht die Zeit, um über Personalkonstellationen zu diskutieren.
Abendblatt: Trotzdem hat Franz Müntefering bereits angekündigt, im November erneut für den SPD-Vorsitz kandidieren zu wollen. Unterstützen Sie dieses Ansinnen?
Nahles: Wenn er kandidiert, finde ich das gut. Wir haben jetzt aber die Strecke bis zum 27. September in den Blick zu nehmen, und nicht einen Parteitag im November 2009.
Abendblatt: Die Wähler haben den Einsatz der SPD zur Rettung von Großunternehmen bisher nicht honoriert. War es ein Fehler Ihrer Partei, so stark auf diese eine Karte zu setzen?
Nahles: Es ist richtig, sich um jeden einzelnen Arbeitsplatz zu sorgen, auch wenn CDU und CSU das anders sehen. Uns geht es dabei um die Sache, um den Erhalt von Unternehmen und Arbeitsplätzen, wenn vernünftige Konzepte vorliegen.
Abendblatt: Sie hätten Arcandor geholfen?
Nahles: Ja, wir haben daran gearbeitet, dafür die Bedingungen zu schaffen. Aber Merkel und Guttenberg wollten an Arcandor ein Exempel statuieren, das da lautet: Der Markt braucht den Staat doch nicht. Um diese Botschaft aussenden zu können, gefährden die beiden nun mehrere Zehntausend Arbeitsplätze. Aber das ist ihnen die Sache offensichtlich wert. Diese Zerschlagung war voreilig. Und der Erste, der das Wort Insolvenz in diesem Zusammenhang in den Mund genommen hat, war unser Bundesinsolvenzminister Guttenberg im Auftrag von Merkel.
Abendblatt: Die SPD hat die Entscheidung doch mitgetragen.
Nahles: Wir wollten eine Insolvenz vermeiden, und das hat Frank-Walter Steinmeier in aller Klarheit zu Protokoll gegeben.
Abendblatt: Taugt der neue Wirtschaftsminister wirklich als neues SPD-Feindbild? Bei den Deutschen kommt er bislang ziemlich gut an.
Nahles: Der ist sicher ein ganz netter Kerl, wenn man ihn trifft. Nur leider nützt das den Arbeitnehmern bei Karstadt und Quelle gar nichts. Ich bedauere, dass Guttenberg ein ordnungspolitischer Dogmatiker ist, der Arbeitsplätze aufs Spiel setzt, um in Wirtschaftszeitungen glänzen zu können. Er war vielleicht ein passabler Außenpolitiker. Er hätte besser in diesem Fach bleiben sollen.
Abendblatt: CDU-Fraktionschef Volker Kauder wirft der SPD vor, sie wolle sich mit Steuermilliarden Stimmen erkaufen.
Nahles: Das ist lächerlich. CDU und CSU haben nicht mit der Wimper gezuckt, als Hunderte von Milliarden Euro bereitgestellt wurden, um angeschlagene Geldhäuser zu retten. Jetzt kommen noch Bad Banks zur Aufbewahrung toxischer Papiere. Aber Bürgschaften und Überbrückungskredite für strudelnde Unternehmen, die werden als ordnungspolitischer Weltuntergang skandalisiert. Das ist doch schizophren!
Abendblatt: Sollte es am 30. August bei den Landtagswahlen im Saarland und in Thüringen für Rot-Rot reichen und diese Bündnisse tatsächlich zustande kommen - wie wollen Sie den Bürgern dann noch glaubhaft erklären, dass jegliche Zusammenarbeit mit der Linkspartei im Bund weiter ausgeschlossen ist?
Nahles: Die Konservativen können gerne versuchen, das dann auszuschlachten. Aber wenn Heiko Maas im Saarland Ministerpräsident wird und Peter Müller aus dem Amt jagt, dann wird uns das im Bundestagswahlkampf enormen Rückenwind geben, glauben Sie mir. Dass eine Koalition auf Bundesebene derzeit ausgeschlossen ist, ist bekannt.
Abendblatt: Die Große Koalition gilt als ideales Bündnis zur Bewältigung der Krise. Sehen auch Sie Argumente für eine Fortsetzung dieses Bündnisses?
Nahles: Ich möchte die Große Koalition nicht fortsetzen. Wichtige Schritte wie die Begrenzung der Managergehälter oder ein flächendeckender Mindestlohn lassen sich mit der Union einfach nicht umsetzen.
Abendblatt: Das heißt, Sie wünschen sich die Ampel?
Nahles: Ich wünsche mir einen Kanzler Steinmeier.
Abendblatt: Wie erklären Sie sich die Erfolgswelle der Liberalen?
Nahles: Mit der Radikalisierung eines Teils des konservativen Wählerlagers. Die wollen weiter einen rein marktliberalen Kurs und haben nicht begriffen, was die Krise bedeutet. Aber wir werden diese Ideologen inhaltlich stellen.
Abendblatt: Obwohl Sie mit den Liberalen in einer Ampelkoalition regieren wollen? Bei dieser Vorstellung müssten Ihnen doch die Haare zu Berge stehen.
Nahles: Wenn wir stark werden, dann können wir, egal mit wem wir koalieren, viel durchsetzen. Alle Parteien brauchen nach der Wahl Partner, so ist das nun mal.
Abendblatt: Können Sie sich eine Rolle im Kabinett vorstellen?
Nahles: Wir sollten das Fell des Bären nicht verteilen, bevor er erlegt wurde. Spekulationen über Posten bringen uns nicht weiter.
Abendblatt: Einen Posten gibt es nach der Wahl bei der SPD auf jeden Fall neu zu vergeben, denn Fraktionschef Peter Struck hört auf. Stehen Sie für die Nachfolge zur Verfügung?
Nahles: Diese Personalie wird sicherlich viele Fantasien anregen, aber meinen Kopf hat sie noch nicht beschäftigt.
Abendblatt: Im Hamburger Wahlkreis Eimsbüttel hat Danial Ilkhanipour Ihrem engen Mitstreiter Niels Annen die SPD-Bundestagskandidatur abgenommen. Würden Sie im Wahlkampf dort trotzdem auftreten, wenn Ilkhanipour Sie dazu einlädt?
Nahles: Ich hoffe doch sehr, dass er davon Abstand nimmt, mich das zu fragen.