Sie bitten um Heilung von schweren Krankheiten. Sie wünschen sich, dass es ihren Angehörigen im Himmel gut geht. Und sie fordern ein kleines Stück vom Glück. Tausende, ob Erwachsene oder Kinder, schreiben jeden Tag an Gott. Miriam Opresnik hat sich über die Motive der Autoren Gedanken gemacht.
Hamburg. Manchmal fragt sich Anna, was an jenem Tag anders gewesen ist. Warum sie an jenem 24. April 2005 nicht einfach ein paar Sätze in ihr Tagebuch geschrieben hat, wie jeden Abend, seit sie im Rahmen ihres freiwilligen sozialen Jahres in England war. Das Schreiben hatte ihr geholfen, Eindrücke zu verarbeiten, die Gedanken zu sortieren. Und die Einsamkeit zu überwinden. Irgendwie war das Tagebuch wie ein Freund in der Ferne. Bis zu jenem Abend. Als es ihr nicht mehr genügte, an einen anonymen Adressaten zu schreiben.
Vielleicht lag es daran, dass ihre Mutter krank geworden war. Vielleicht aber auch daran, das Anna nicht mehr mit Gott sprechen konnte. Nicht mehr beten konnte. Ihre heile Welt drohte auseinanderzubrechen, die Angst raubte ihr jeden klaren Gedanken. Also setzte sie sich hin und brachte ihre Fragen und Zweifel zu Papier. Fast so wie jeden Abend. Doch an jenem 24. April schrieb sie nicht "Liebes Tagebuch" über die Seite. Sondern "Lieber Gott".
Es war der erste Brief, den Anna Riegel (23) an Gott schrieb. Hunderte weitere folgten. "Manchmal schreibe ich ihm, manchmal spreche ich mit ihm. Genauso, wie ich mit meinen Freunden auf verschiedenen Wegen kommuniziere", sagt Anna. Seit sie vor vier Jahren von London nach Hamburg gezogen ist, setzt sich die Sozialpädagogikstudentin zwei- bis dreimal pro Woche an den Schreibtisch in ihrer WG und schreibt in ein Notizbuch Briefe an Gott. Auf der Fensterbank vor ihr steht ein Foto von ihrer Mutter.
"Herr, ich hatte echt einen guten Tag gestern - ok, am Morgen war es etwas schwer mit den Entscheidungen, die ich treffen musste, aber Du hast echt einen guten Tag daraus gemacht. Wie genial von Dir ..." (Anna Riegel an Gott)
Briefe an Gott - das mag sich für viele fremd anhören. So fremd wie der Gedanke, als Erwachsener noch an den Weihnachtsmann zu schreiben oder einen Brief in eine Liebeseiche zu stecken. Und doch schreiben jeden Tag Tausende ihre Bitten in die Gebetbücher, die in vielen Kirchen ausliegen, schicken Briefe an Gott nach Israel - oder stecken ihre Gebete in die Ritzen der Klagemauer.
Hamburgs Erzbischof Werner Thissen sagt: "Ich glaube, auch für Briefe an Gott gilt, was Gottfried August Bürger einmal über Briefe generell geäußert hat: 'Briefe leben, atmen warm und sagen mutig, was das bange Herz gebeut. Was die Lippen kaum zu stammeln wagen, das gestehn sie ohne Schüchternheit.'" Briefe an Gott - das hört sich für ihn nicht fremd an. Weil Briefe in der Kirche eine lange Tradition haben. Die Briefe von Paulus oder die Votivtafeln in Wallfahrtskirchen, in denen Gläubige Gott für seine Hilfe danken, sind Beispiele dafür.
"Vielen Menschen fällt es leichter, ihre Sorgen und Nöte aufzuschreiben als sie auszusprechen. Jede Zeit hat da eben ihre eigenen Formen", sagt Bischöfin Maria Jepsen. Briefe an Gott sind wohl nicht fremd oder ungewöhnlich, allenfalls in Vergessenheit geraten. Schließlich gilt die Bibel selbst als Brief Gottes an die Menschen. Warum also nicht darauf antworten?
"Verba volant, scripta manent", sagt ein lateinisches Sprichwort. Das Gesprochene vergeht, das Geschriebene besteht. Verliebte ritzen ihre Namen in Baumrinden - oder eben Menschen schreiben an Gott. Vielleicht haben wir auch nur das Kommunizieren verlernt. Vielen Menschen fällt es leichter, eine E-Mail oder SMS zu schreiben, statt jemanden anzurufen und mit ihm zu sprechen. Ein Brief an Gott ist vielleicht auch der Wunsch, dem Gebet durch die schriftliche Form mehr Nachdruck zu verleihen.
"Ich habe seit kurzem meine Konfi hinter mir. (...) Oft will ich nicht mehr weiterleben, aber meine Geschwister und meine Familie gibt mir Kraft und dafür will ich dir danken." (Eintrag im Gebetbuch im Michel)
Deswegen gibt es inzwischen in vielen Kirchen Gebetbücher, in die die Menschen ihre Anliegen schreiben können - und die oftmals von anderen Gläubigen in ihre Gebete mit aufgenommen werden. Die Not des Einzelnen wird Teil der Gebetsgemeinschaft. Es ist die klassische Form der Fürbitte. Und es ist ein Zeichen, dass man nicht allein ist in dem Moment, in dem man seine Sorgen aufschreibt.
"Herr, erfülle die Gebete der Seelen in den Seiten vor dieser, nach dieser und dieser ..." (Namenloser Eintrag im Gebetbuch im Hamburger Michel)
Fast 10 000 Seiten haben die Besucher des Michel in den vergangenen 20 Jahren mit ihren Einträgen gefüllt. In allen Sprachen, in allen Formen. Ohne auf Rechtschreibung und Grammatik zu achten. Wer mit Gott sprechen will, muss sich an keine Regeln halten. Er darf bitten und flehen, zweifeln und zürnen. Anklagen und hinterfragen. Die Autoren wissen: Gott ist Ehrlichkeit wichtiger als fromme Fassaden.
Manchmal fragt sich Michel-Pastor Alexander Röder, welche Menschen sich hinter den Einträgen in den Gebetbüchern verbergen. Welche Geschichten, welche Schicksale. Was aus den Menschen geworden ist, die Gott um Hilfe gebeten haben. Um Heilung. Immer wieder um Heilung. In Hunderten von Einträgen bitten die Menschen um Gesundheit. Um Genesung von einer schweren Krankheit. Wenn die Medizin an ihre Grenzen stößt und Menschen nicht mehr helfen können, scheint Gott die letzte Hoffnung zu sein. Jemand, der das scheinbar Unmögliche möglich machen kann. Der Kranke gesund machen kann. So wie es in der Bibel steht, und wie es sich die Menschen in ihrer größten Not erhoffen. Auch heute noch. Oder vielleicht gerade heute.
"Behüte und beschütze meine Tochter und meine Schwester. Schenke ihnen Kraft und bewirke ein Wunder für die Heilung ihrer Krankheit. Ich vertraue auf Dich." (Heidelore, Gebetsbuch im Michel)
Es ist egal, ob wir gläubig sind oder nicht. Juden oder Christen. Alt oder jung. Die Bücher sind für alle. Und sie sind ein Beweis, dass Glaube keine Grenzen kennt. Dass jeder an Gott schreiben kann - auch wenn es ihm vielleicht fremd vorkommt. Ungewohnt. Doch manchmal erlaubt uns gerade diese Fremdheit, offen zu sein. Ehrlich zu sein. Dinge auszusprechen, die wir sonst nicht aussprechen können. Wie eine Cathleen, die im Michel aufgeschrieben hat: Ich hoffe, dass Frieden, Liebe und Gesundheit über die Menschheit kommt und dass Sie uns beschützen. Und ich hoffe, mit dem richtigen Mann glücklich werden zu dürfen." Diese Menschen wissen nicht, wem sie diese Gedanken sonst mitteilen könnten.
"Lieber Gott, eine Zeitlang war ich böse mit Dir, denn ich konnte nicht verstehen, dass Du meinen Papa so jung mit 59 Jahren - zu Dir gerufen hast ..." (Eintrag Gebetbuch im Michel)
Das gilt vor allem für die vielen Einträge von Kindern. Rührende Einträge über alles, was sie gerade bewegt: "Ich danke dir, dass ich nicht sitzen bleibe und in die 6 komme." Kinder, die darum bitten, dass ihre Eltern sich nicht mehr streiten. Kinder, die dafür beten, dass ihr Vater gesund wird oder ihre Mutter bei den Engeln ist. Kinder, die in Situationen wie diesen vielleicht niemandem zum reden haben. Außer Gott.
"Herr ich bitte darum, dass du mir helfen kannst. Bitte lass es nicht wahr sein, dass ich diese Angst hab immer nachts. Bitte, oh Herr, es soll aufhören. Ich habe immer Angst. Von Larisa (noch Kind.)" (Gebetbuch Michel)
Manchmal fragt sich Anna Riegel, wann sie wohl zum ersten Mal an Gott geschrieben hätte, wenn ihre Mutter damals nicht krank geworden wäre. Denn dass sie irgendwann damit angefangen hätte, da ist sie sich ganz sicher. Weil ihr sonst etwas fehlen würde. Sie will ihre Beziehung zu Gott nicht auf eine Form der Kommunikation begrenzen. Auch wenn das einigen Menschen vielleicht fremd vorkommt, verrückt, merkwürdig. Vielleicht sogar naiv. "Aber vielleicht sollten es gerade diese Menschen einmal selbst probieren", sagt Anna. Sie hätten ja nichts zu verlieren.
Anna wird auch weiterhin regelmäßig an Gott schreiben. So, wie ihr die Worte in den Sinn kommen. Und so, wie Goethe es einmal gesagt hat: "Schreibe nur, wie du reden würdest, und so wirst du einen guten Brief schreiben."
Egal, ob der Brief an einen Menschen ist. Oder an Gott.