Nach Karlsruher Urteil fordern Hamburger Politiker Verbesserungen für Asylbewerber. Kirche für Gleichstellung mit Hartz-IV-Empfängern.
Hamburg. Für Amir M. aus Afghanistan kommt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe schon zu spät. In etwa drei Wochen wird er seine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Zwei Jahre lang aber lebte der 20-Jährige in Hamburg-Billstedt am Existenzminimum. Mit gut 200 Euro musste er im Monat auskommen. Arbeiten und etwas hinzuverdienen, das durfte er laut Gesetz nicht. "Ich habe jede Woche genau überlegen müssen, wofür ich Geld brauche. Etwa 30 Euro in der Woche gingen für Einkäufe drauf. Mit ein wenig Glück hatte ich am Ende des Monats noch ein bisschen was für Kleidung übrig", sagt der junge Mann aus Kabul.
Seit dem Sommer 2010 lebt er in Deutschland. Er musste vor dem Krieg in seiner Heimat fliehen. Seinen Bruder hat er auf der Flucht verloren. Wo er ist und was er macht, das weiß Amir M. nicht. Zusätzliche Unterstützung erhielt der Asylbewerber von einer Kirchengemeinde. Dank dieser kann er seinen mittlerweile vierten Deutschkurs absolvieren. "Die 20 Euro, die am Ende eines guten Monats übrig bleiben, reichen natürlich nicht, um das zu bezahlen", sagt er. Er weiß, dass die Sprache der Schlüssel ist für ein besseres Leben in Deutschland. "Ich möchte hier bleiben, einen Beruf lernen und Freunde finden. Und das geht nur, wenn ich auch Deutsch sprechen kann."
+++ 300 Euro in Dänemark, nichts Konkretes in Italien +++
Wie Amir M. geht es vielen. Asylbewerber leben praktisch noch unter dem Existenzminimum. Dabei hätte der Gesetzgeber auf die veralteten Regelungen längst reagieren müssen. Und deshalb hat es das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in sich. Die Richter verknüpften ihre Argumentation mit den höchsten Rechtsgütern, die in der Bundesrepublik gelten. Die unantastbare Menschenwürde und die Staatsordnung ("demokratischer und sozialer Bundesstaat) sind der Hintergrund.
Hamburgs Flüchtlingspastorin Fanny Dethloff schlägt in dieselbe Kerbe: "Deutschland ist der Ort der Menschenrechte und der Freiheit. Wir haben einen anderen Anspruch an die Behandlung von Asylbewerbern als viele andere Länder." Dennoch würden Flüchtlinge hierzulande diskriminiert, weil ihnen ein Wohnort zugewiesen werde, sie sich nicht frei bewegen oder arbeiten dürften. "Die Politik hätte die Leistungen für Asylbewerber selbst regeln können und nicht erst das Urteil abwarten müssen." In Hamburg seien derzeit vor allem unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ein großes Problem.
Antje Möller, flüchtlingspolitische Sprecherin der GAL-Fraktion, sagte: "Für die Betroffenen ist es gut, dass Hamburg sich jetzt nicht mehr hinter dem Bund verstecken kann. Der SPD-Senat muss nun umgehend den Betroffenen höhere Leistungen auszahlen. Falls dies nicht geschieht, werden wir - wie schon beim Bildungs- und Teilhabepaket - einen Antrag in die Bürgerschaft einbringen. Unser politisches Ziel bleibt weiterhin, das Asylbewerberleistungsgesetz gänzlich abzuschaffen." Der Hamburger Senat begrüßt das Karlsruher Urteil, wie Staatsrat Jan Pörksen sagte. Die Sozialbehörde prüfe nun, wie die Übergangslösung umgesetzt werden könne. Nach vorsichtigen Schätzungen müsse die Stadt fünf bis sechs Millionen Euro zusätzlich für die 4600 Anspruchsberechtigten ausgeben.
+++ Ohrfeige für uns alle +++
Der Deutsche Landkreistag rechnet mit Mehrkosten von bis zu 130 Millionen Euro pro Jahr. Davon müssten Landkreise und Städte 60 Prozent tragen. Auch der Deutsche Städtetag erwartet einen deutlichen Kostenanstieg für die Kommunen. Wie hoch die Belastungen im Einzelnen ausfielen, sei wegen unterschiedlicher Regelungen in den Bundesländern nicht bezifferbar.
Hamburg hat allerdings bereits für Asylbewerber weitergehende Leistungen bewilligt als andere Bundesländer wie etwa Bayern, wo das Prinzip Sachleistung vor Geld herrscht und es immer wieder zu Protesten und sogar Hungerstreiks von Flüchtlingen kommt. So können Asylbewerber in Hamburg eine AOK-Karte erhalten, um sich beim Arzt behandeln zu lassen. Bestimmte zahnmedizinische Leistungen werden nur erstattet, wenn sie unumgänglich sind. Ansonsten aber erhalten Betroffene in Hamburg eine bessere Versorgung als im Rest des Landes.
Nun ist das Haus von Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) gefordert. Wie schon bei den verfassungswidrig berechneten Sätzen für Hartz IV muss ein neues Gesetz her. Von der Leyens Staatssekretärin Annette Niederfranke hatte in der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht eingeräumt, dass es noch keinen neuen Gesetzentwurf zum Bedarf der Flüchtlinge gebe. Aber sie sagte, es solle weiterhin einen Unterschied zwischen Hartz-IV-Leistungen und Sozialleistungen für Flüchtlinge geben. Genau dieser Punkt in ihrer Argumentation stieß auf Unverständnis bei den Richtern: Nur wenn Unterschiede zwischen dem Bedarf von Langzeitarbeitslosen und Flüchtlingen belegt würden, sei ein Absenken des Satzes gerechtfertigt.
+++ Hamburg muss Asylbewerbern bis zu 2000 Euro nachzahlen +++
Die Deutsche Bischofskonferenz verlangte, dass Asylbewerber mit Sozialhilfeempfängern gleichgestellt werden. "Es gibt keinen sachlich überzeugenden Grund, warum Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge anders behandelt werden sollten als diejenigen, die Sozialhilfe erhalten", sagte der Hildesheimer Bischof und Migrationsbeauftragte Norbert Trelle.
Die Zahl der Asylbewerber war 2011 mit 45 700 Erstanträgen wieder so hoch wie seit Jahren nicht - doch weit entfernt von den 88 000 vor zehn Jahren und noch höheren Zahlen Mitte der 90-Jahre. Die meisten Antragsteller kamen aus Afghanistan, Irak und Serbien, aber zunehmend auch aus dem Iran und Syrien. Über die Hälfte der Bewerber werden abgelehnt. Das heißt allerdings nicht automatisch, dass sie sofort abgeschoben werden.