Schlechterstellung der Asylbewerber hatte die Zustimmung einer schweigenden Mehrheit
Schon das Wort war ein Monster: Mit dem Asylbewerberleistungsgesetz wollte die Regierung die Zahl der Flüchtlinge, die aus aller Welt nach Deutschland kamen, eindämmen. Insofern war es kein Leistungsgesetz, sondern ein Verhinderungsgesetz - und ein erfolgreiches dazu. Strömten damals noch jährlich Hunderttausende, darunter viele sogenannte Armutsflüchtlinge, in die Bundesrepublik, waren es zuletzt noch gut 30 000.
Damals, das war 1993 - vier Jahre nach dem Mauerfall, Helmut Kohl regierte und die heutigen Abiturienten waren gerade geboren. Seitdem sind Leistungen, die für Flüchtlinge während der Zeit ihrer Asylbewerbung deutlich niedriger ausfallen als etwa für deutsche Sozialhilfe- oder Hartz-IV-Bezieher, nicht mehr angehoben worden.
Das ist der eigentliche Skandal - und er trifft nicht nur die jetzige Regierung von Angela Merkel. Sozialdemokraten und Grüne haben, als sie mit Gerhard Schröder den Kanzler stellten, auch keinen Eifer gezeigt, den verfassungswidrigen Zustand zu ändern und Asylbewerbern mehr Geld zum Leben zuzugestehen.
Dass es verfassungswidrig war, wie die Richter in Karlsruhe jetzt festgestellt haben, hätte man auch früher sehen können - wenn man nur gewollt hätte. Das Asylbewerberleistungsgesetz stempelte nämlich von Anfang an die Flüchtlinge zu Sozialhilfeempfängern zweiter Klasse. Dabei stand und steht im Grundgesetz, dass erstens die Würde des Menschen unantastbar ist und zweitens niemand wegen seiner Herkunft, seines Geschlechts oder seiner Rasse benachteiligt werden dürfe.
Das Verdikt von Karlsruhe ist aber nicht nur eine schallende Ohrfeige für die herrschenden Parteien, sondern auch für viele von uns Bürgern. Denn wer immer in Bonn und Berlin regiert hat, konnte auf die Zustimmung einer nicht nur schweigenden Mehrheit bauen. Scharfmacher schürten bereitwillig latente Vorurteile gegen alles Fremde. Viele hatten, als die Arbeitslosenzahlen in Deutschland auf fünf Millionen kletterten, wohl auch Angst um ihren Arbeitsplatz.
Die Oppositionsrolle haben wir nur zu gerne zum Beispiel Kirchen oder Wohlfahrtsverbänden überlassen. Selbst als die Beschränkungen für Asylbewerber immer drastischer wurden, sie lediglich Taschengeld und Gutscheine bekamen, nicht arbeiten oder in manchen Bundesländern wie dem besonders strengen Bayern nicht mal Stadt- und Kreisgrenzen verlassen durften, um Verwandte zu besuchen, regte sich kaum Protest. Wer dennoch kritisierte, galt, auch in vielen Medien, schnell als naiver Gutmensch.
Stattdessen hat die EU bislang über eine Milliarde Steuergelder an Mitgliedstaaten zur besseren Abschottung ihrer Grenzen gegen Flüchtlinge ausgeschüttet. Deutschland bekommt aus dem Topf rund zehn Millionen Euro jährlich - und die deutsche Regierung wird gern vorstellig, wenn Länder wie Griechenland oder Italien ihren Abwehrbemühungen nicht energisch genug nachkommen.
Die deutsche Entwicklungshilfe hat nie wieder den Höchststand von 1993 erreicht, wo sie fast bei den angestrebten 0,5 Prozent des Bruttonationaleinkommens lag, um etwa die Armut in den Heimatländern der Wirtschaftsflüchtlinge zu bekämpfen - was echte Prävention bedeuten würde.
Zur Erinnerung: 1993 war das Jahr, in dem das jetzt gekippte Asylbewerberleistungsgesetz in Kraft trat.
Jetzt stellt sich heraus: Die Gutmenschen mit ihrer Kritik an der Behandlung von Asylbewerbern hatten nicht nur moralische Argumente, sie standen zudem voll und ganz auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung.
Gut, dass es die Richter in Karlsruhe gibt.
Der Autor ist Mitglied der Chefredaktion des Abendblatts