Es ist nicht mehr viel übrig vom grünen Höhenflug. Am stärksten bekommt das Renate Künast gerade im Berliner Wahlkampf zu spüren.
Berlin. Joschka Fischer ist wieder da. Nein, anwesend ist er nicht an diesem trüben Freitagmittag im Saal der Berliner Bundespressekonferenz. Aber Renate Künast beschwört Joschkas Geist. "Ich bin Fischer-Schule", sagt sie knapp und mustert die Gesichter ihrer Zuhörer. "Was heißt das? Gekämpft wird bis zum letzten Tag." Neben ihr sitzt Winfried Kretschmann, der erste grüne Ministerpräsident in der Geschichte der Bundesrepublik. In väterlichem Ton sagt der 63-Jährige: "Jetzt wollen wir hier nicht von Schlappen reden." Der Wahlkampf habe erst begonnen. Der gemeinsame Auftritt des 100-Tage-Regierungschefs von Baden-Württemberg und der Möchtegern-Regierungschefin von Berlin hat vor allem ein Ziel: die grüne Stimmung endlich wieder aufzuhellen. Fischer-Schule und Kretschmann-Ruhe sollen also die wahlkämpfende Künast zurück auf die Erfolgsspur bringen. In vier Wochen will die Fraktionschefin im Bundestag die Berliner Abgeordnetenhauswahl gewinnen und Regierende Bürgermeisterin werden. Nur sieht es danach schon lange nicht mehr aus.
Als Künast im vergangenen Herbst antrat, um SPD-Amtsinhaber Klaus Wowereit zu schlagen, hielt sie den Wahlkampf noch für ein Duell ums Rote Rathaus. Seitdem haben die Grünen in den Umfragen an Rückhalt verloren. Aus dem vermeintlichen Duell ist ein ungleicher Dreikampf geworden. Wowereit, der mit der Linkspartei koaliert, liegt jüngsten Umfragen zufolge weit vorn zwischen 31 und 36 Prozent, abgeschlagen mühen sich Künast und CDU-Herausforderer Frank Henkel knapp über der 20-Prozent-Hürde ab. Anfangs hatten die Grünen noch acht Prozentpunkte vor Wowereits SPD gelegen.
Es läuft nicht mehr rund im grünen Getriebe - das merkt nicht nur Künast, auch im Bund lässt das Interesse an der Partei merklich nach. Im aktuellen ARD-DeutschlandTrend haben sie zwei Prozentpunkte verloren. Nun liegen sie bei 21 Prozent, die SPD setzt sich wieder stärker ab.
Es ist ein seltsames Dilemma, in dem die Grünen momentan stecken. Auf Bundesebene fehlen ihnen die Themen, um weiter punkten zu können. Die Energiewende ist gesetzlich vollzogen, und auf der Suche nach neuen Konflikten mit der Regierung sind die Grünen noch nicht fündig geworden. In der Euro-Krise scheint die Bevölkerung jedenfalls nicht auf grüne Ratschläge zu setzen. Und im Streit um die Zukunft der Pflegeversicherung, der nächsten politischen Großbaustelle, spielt derzeit die SPD die Kompetenz-Karte aus. Dennoch versucht sich Künast in Berlin in einem emotionslosen Inhalte-Wahlkampf. Bisher ohne Erfolg. Den Grünen sei es im Berliner Wahlkampf bisher nicht gelungen, ein Thema prominent zu platzieren, konstatiert Richard Hilmer, Geschäftsführer des Wahlforschungsinstituts Infratest dimap.
Auch deshalb sitzt Kretschmann auf dem Berliner Podium neben der Bürgermeisterkandidatin. Eigentlich ist er gekommen, um eine erste Bilanz seiner grün-roten Landesregierung in Stuttgart zu ziehen. Aber dann kann er es sich doch nicht verkneifen, seiner Parteifreundin öffentlich Ratschläge zu geben. Er sei im baden-württembergischen Wahlkampf selbstbewusst aufgetreten und könne "allen nur raten, es so zu machen". "Selbstständig zu bleiben", ist ein weiterer Kretschmann-Rat, genauso wie "bescheiden zu bleiben". Das sei "eine gute menschliche Tugend". Und: "Von guten Umfragen lässt man sich beflügeln. Schlechte ignoriert man." Doch das fällt Künast schwer. "Ich hätte gern bessere Umfragen, ist doch klar", sagt sie. Die frühere Verbraucherschutzministerin gibt sich gewohnt knorrig. Auf die Frage, ob sie ihren Stil ändern werde, um bei den Wählern besser anzukommen, sagt sie genervt: "Ich will gar nicht werden wie andere." Man werde weder ein Kind noch eine 55-Jährige verändern können.
Wenn es um die Hauptstadt geht, hat Künast allerdings schon so manche Veränderungswünsche formuliert. Nicht alle haben ihr in der Wählergunst geholfen. Mal sprach sie von einer flächendeckenden Tempo-30-Zone, dann wünschte sie sich den neuen Großflughafen in Schönefeld lieber eine Nummer kleiner - und das in einer Stadt, die vom wirtschaftlichen Aufschwung zuletzt kaum etwas mitbekam.
Auf ihren Plakaten ist nun zu lesen: "Renate kämpft". Dass sie sich gegen zu hohe Mieten, gegen Bildungsungerechtigkeit und gegen soziale Spaltung einsetzt, soll man deuten. Aber während die Spitzenkandidatin konfrontativ wirken will und den Finger in jede rot-rote Wunde zu legen versucht, entwickelt sich Künasts Kampf längst zu einem in eigener Sache. Sollte sie weiter abrutschen, wäre sie auch persönlich beschädigt. Auch hinter die CDU zu fallen käme inzwischen einer Klatsche gleich. Aus dem Landesverband hört man, Künast habe im Wahlkampf anfangs zu wenig Elan an den Tag gelegt. In diesen Kreisen heißt es auch, Künast habe nach dem Erfolg in Baden-Württemberg geglaubt, Wowereit in der Hauptstadt zu schlagen, werde ein Selbstgänger.
Wenn Künast nun unterwegs ist und um Stimmen kämpft, betont sie, dass sie der Stadt etwas zurückgeben wolle. Ein Vierteljahrhundert lebt die gebürtige Nordrhein-Westfälin inzwischen hier. Aber als eine der Ihren scheinen sie die meisten Berliner noch nicht zu akzeptieren. Ganz anders bei Wowereit: Die Umfragen belegen, dass die Berliner ihren seit zehn Jahren Regierenden Bürgermeister einfach gernhaben und ihn für kompetenter halten als die Herausforderin. 59 Prozent würden für ihn bei einer Direktwahl stimmen - für Künast nur 23 Prozent. Verdruss sieht anders aus.
Fast könnte man meinen, die Stadt habe keine Sorgen. Dabei ist die Arbeitslosenquote fast doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Und Berlin ist weit davon entfernt, die rote Laterne als Deutschlands Hartz-IV-Hauptstadt loszuwerden. Nur als Streitthema taugt der Missstand offenbar nicht mehr. Doch Künast hat noch ein ganz anderes Problem. Mit Argwohn sehen ihre Anhänger, dass den Grünen für einen Regierungswechsel nur die CDU als möglicher Koalitionspartner geblieben ist. Allein Grün-Schwarz könnte Künast ins Rote Rathaus hieven. Aber diese Konstellation müsste zuerst von der grünen Basis geschluckt werden. Die will allerdings lieber mit der SPD regieren. Der Widerstand ist schon programmiert. Auch Künast muss bekennen: Die größte Schnittmenge habe man mit den Sozialdemokraten.
Aber Juniorpartnerin unter Wowereit - das will sich Künast persönlich nicht antun. Wenn es am Ende auf Rot-Grün zulaufen sollte, dann ohne Künast. Noch will sie nicht daran denken. Als die grüne Kandidatin zum Schluss der Pressekonferenz ein zweites Mal an die "Fischer-Schule" erinnert und betont, sie werde am 18. September bis 18 Uhr kämpfen, beugt sich Kretschmann ruckartig nach vorn: "Renate, jetzt muss ich doch noch mal einen Ratschlag geben." Sie müsse sich an dem Tag auch ein wenig Ruhe gönnen: "Kämpfe am Wahltag nur bis 12 Uhr."