Der Staat verliert jährlich durch Steuerbetrügereien 30 Milliarden Euro, sagt der Chef der Steuer-Gewerkschaft Thomas Eigenthaler.
Hamburg. Sie nennen es Außendienst. Es ist eine kleine Truppe von 64 hoch qualifizierten Hamburger Beamtinnen und Beamten. Manche kommen in Jeans und T-Shirt, andere tragen bei Hausbesuchen Anzug und Krawatte. Und nie sind sie eingeladen worden. Eine Million Euro pro Jahr "erwirtschaftet" ein Steuerfahnder. Das ist die Faustformel für den Staat, wenn er einen neuen Beamten schult und nur noch damit beschäftigt, denen hinterherzurecherchieren, die deutlich weniger Steuern zahlen, als sie müssten.
Hamburgs Steuerfahnder, sagt die Finanzbehörde, haben ihre "Einnahmen" von 2009 zu 2010 fast verdoppelt: von 68 auf 118 Millionen Euro. In Nordrhein-Westfalen brüstet sich die Finanzverwaltung damit, dass sie im Jahr 2010 knapp fünf Milliarden Euro an zusätzlichen Steuern eingetrieben hat. Steuernachzahlungen waren das, Zinsen, Strafen und Ergebnisse vieler Selbstanzeigen, nachdem das Land eine der umstrittenen Steuer-CDs aus der Schweiz gekauft hatte.
Dabei könnte die Inkassofirma des Staates bei säumigen Zahlern und Steuerbetrügern noch mehr holen. "Wir wundern uns, dass der Staat wenig tut. Und wir wundern uns, dass über Steuererhöhungen oder Steuersenkungen diskutiert wird, während unseres Erachtens man das eintreiben sollte, was säumige Steuerzahler heute dem Fiskus schulden", sagt der neue Vorsitzende der Steuer-Gewerkschaft, Thomas Eigenthaler, dem Hamburger Abendblatt. Der 53-Jährige vertritt die Belange der Finanzbeamten in Deutschland. Keine Berufsgruppe, die im Ansehen der Bürger an erster Stelle kommt.
Zu Unrecht, wie Eigenthaler findet. Während der Diskussionen über Euro-Rettung, Haushaltslöcher und Schuldenbremsen werde die Einnahmeseite des Staates vernachlässigt. "Wir müssten 10 000 Beamte zusätzlich mit der Steuer befassen: als Steuerfahnder, als Betriebsprüfer und für die normale Bearbeitung der Erklärungen", sagt Eigenthaler. "Das brächte enorme Mehreinnahmen." Bei möglichen Mehreinnahmen geht es nur um die Steuern, die dem Staat zustünden, ihm aber von Betrügern vorenthalten werden.
Und geschummelt wird überall, wie der Report eines früheren Ermittlers zeigt. Frank Wehrheim hat mit seinem Buch "Inside Steuerfahndung" (Riva-Verlag) einen Wirtschaftsbestseller geschrieben, der Konzernchefs und normale Bürger als Täter identifiziert. Als Steuerfahnder hat er "im Schmutz gewühlt", "menschliche Tragödien" erlebt und Millionen eingetrieben. "Wir haben Klöster, Ministerien, Banken, Partei-büros, Rechtsanwaltskanzleien, Vorstandsbüros und Gewerkschaftskonzerne durchsucht - und wir haben fast immer etwas gefunden", schreibt Wehrheim. Eine Beispielrechnung zeigt, dass sich schon ein Betrugsfall einer mittelständischen Firma lohnt. Wenn man über zehn Jahre jedes Jahr 50 000 Euro an Steuern hinterzieht, muss man nicht nur die 500 000 Euro zurückzahlen, sondern 185 000 Euro Zinsen. Dazu kommen möglicherweise eine hohe Geldstrafe plus Einnahmen von beteiligten Mitbetrügern. Das können Zahnärzte und Dentallabore sein, die beim Zahngold tricksen. Oder Handwerker, die ohne Rechnung arbeiten und die Mehrwertsteuer vermeiden. Oder eben Unternehmen, die auf kreativen Wegen den Parteien Geld spenden.
Wehrheim berichtet erstmals von Durchsuchungen in Konzernen. Die Hausjuristen beschieden dem Steuerfahnder, dass er gerade im Begriff sei, ein Abgeordnetenbüro zu durchsuchen. Dass Abgeordnete Arbeitszimmer in Unternehmen hätten, sei auch ihm neu gewesen. Umgekehrt bezahlten Firmen offenbar Mitarbeiter von Parteien, um Spenden zu kaschieren, und zahlten Politikern hohe Honorare für Standardreden. "Es gibt offenbar genau so viele Kriminelle im Bundestag wie im Volk", ist Wehrheims nüchternes Fazit.
Der Chef der Steuer-Gewerkschaft fordert eine Kommission wie bei der Energiewende oder der Rente: "Das Thema Steuern muss man parteiübergreifend anpacken", sagt Eigenthaler. Das Steuerkonzept des großen Vereinfachers Paul Kirchhof - ehemaliger Bundesverfassungsrichter - sieht Eigenthaler skeptisch. Ein Steuersatz von 25 Prozent für alle sei zu niedrig angesetzt. Kirchhof erwecke außerdem den Eindruck, "als gäbe es nur Steuerakrobaten". Die Steuerbetrüger, die nach Hochrechnungen der Steuer-Gewerkschaft jedes Jahr 30 Milliarden Euro zu wenig zahlen, werden oft von einer verlassenen Ehefrau oder ehemaligen Mitarbeitern angeschwärzt. Was Steuerfahnder bei Durchsuchungen oft von Beschuldigten zuerst hören, ist dieser Satz: "Das war bestimmt meine Alte."