145 000 Menschen demonstrierten gestern vor zwölf Atomstandorten in Deutschland. Unsere Reporter waren in Krümmel und Brunsbüttel.
Als Jurij Wazkel seinen letzten Satz sagt, brandet Beifall auf. Es ist der lauteste Applaus des Tages, ein Zeichen der Anerkennung. Zuvor hatte der ukrainische Liquidator erzählt, wie er 1986 als Mitglied der Sondereinheit 731 nur mit weißem Baumwollanzug und Mullmaske aufs Dach des Katastrophenreaktors in Tschernobyl geschickt wurde, um radioaktiven Müll zu entfernen. Wie er heute von einer lächerlichen Invalidenrente lebt und wie 500 seiner 700 Mann starken Truppe an den Folgen ihres Einsatzes starben. Er ist ein Mahnmal der Atomindustrie. Vielleicht hallt sein letzter Satz deshalb besonders nach.
25 Jahre nach dem Unglück in der damaligen Sowjetunion redet der Ukrainer bei der Anti-Atom-Demonstration vor dem Kernkraftwerk Krümmel. Vor ihm stehen nicht nur die üblichen Verdächtigen mit verfilzten Haaren und bedruckten T-Shirts. Vor ihm stehen auffallend viele Familien. Neugeborene hängen in den Tragetüchern ihrer Mütter, Bollerwagen mit Kleinkindern rollen neben Papa. "Aus bleibt aus!", wird skandiert, weiter hinten kostet die Anti-Atom-Waffel mit Puderzucker und eingestanzter Sonne zwei Euro, die gelbe Protestfahne mit dem gleichen Motiv acht Euro. Dazu gibt es Apfel-Holunder-Punsch, einen Button fürs Jackett und ein Flugblatt speziell für Kinder. An die ganze Atomkraftgegnerfamilie ist gedacht, der Anti-AKW-Protest wird nach seiner Glanzzeit in den 80er-Jahren wieder zum Ereignis.
17 000 Menschen haben sich gestern laut Organisatoren zum Protest im Geesthachter Stadtteil Krümmel versammelt. 145 000 seien es in ganz Deutschland gewesen, in einer konzertierten Aktion wurde zeitgleich vor zwölf Meilern demonstriert. "Und dabei beschränkt sich der Protest nicht mehr auf gesellschaftliche Milieus. Er ist nicht zuletzt durch die aktuellen Ereignisse in Japan breiter geworden. Selbst die 14-Jährigen sind bestens informiert", sagt Jochen Stay, Sprecher der Bürgerinitiative Ausgestrahlt. Er sieht den Zulauf mit Wohlwollen. Bestärkt durch die nukleare Katastrophe im Kernkraftwerk Fukushima, die seit dem 11. März an Wucht gewinnt und exakt ein Vierteljahrhundert nach dem Super-GAU in Tschernobyl. Aktuelle Brisanz, Moratorium in Deutschland und das Gefühl, einer Mehrheit anzugehören, trieben Tausende in die ländliche Umgebung Hamburgs, um vor dem AKW Krümmel dessen Stilllegung zu fordern, Fahnen zu schwenken, eine Waffel zu essen und ein Fest vor finsterem Hintergrund zu feiern. Unnötig zu erwähnen, dass die Abschaltung aller 17 deutschen Meiler verlangt wurde.
Kennzeichen aus dem Herzogtum Lauenburg, aus dem Wendland, aus dem Landkreis Harburg, aus Pinneberg, aus Hamburg oder Lübeck zeugen von einem hohen Mobilisierungsgrad. In Lübeck etwa hatten sich Mutter Sandra Paulsohn mit Tochter Maj-Britt und Sohn Bjarne um halb zehn Uhr aufgemacht. Sie seien nicht die typischen Gegen-alles-Demonstranten. Aber heute war ihnen wichtig. Deshalb streiften sie sich die "Atomkraft - nein danke!"-T-Shirts über und aktivierten das schlummernde Demonstrationspotenzial ihrer Familie. "Denn es ist die einzige Möglichkeit, die uns allen bleibt, auf Entscheidungsträger einzuwirken", sagt Sandra Paulsohn. Ihre Kinder seien zum Wählen zu jung, also musste der geballte familiäre Druck auf die Straße. "Außerdem weiß noch keiner, was mit dem radioaktiven Müll passiert", ergänzt ihre Tochter Maj-Britt. Diese Last betreffe nicht nur ihre Generation, sagt die 14-Jährige, sondern auch die Generationen danach. Darum protestiere sie aus eigenem Antrieb gegen die von der Bundesregierung Brückentechnologie genannte Atomkraft.
Von "Krückentechnologie" ist dagegen auf Protestplakaten die Rede. Oder vom "Krümmelmonster". Eindrücklich zeigte sich der gern mit Erlebnisorientiertheit verwechselte Groll der Massen, als die Störfälle des als "Pannenreaktor" verschrienen Meilers verlesen wurden. "Die Liste ist so lang, dass mir beim Drucken das Papier ausgegangen ist", sagte Moderator Willem Wittstamm. "Und das soll der größte und modernste Siedewasserreaktor der Welt sein?" Dass sie nicht lachten.
Krümmel, am nördlichen Elbufer, ist seit Juli 2009 wegen zahlreicher Zwischenfälle abgeschaltet, Brunsbüttel, ein paar Kilometer flussabwärts, liegt schon zwei Jahre länger still. Auch dort wurde demonstriert.
Auch dort ein Bild wie beim Festival: Familien, Friedensdemonstranten und Fahrradfahrer bilden die Anti-Atom-Bewegung. Der Deich gleich nebenan. Am Brunsbüttler Werkstor hängen Tausende Postkarten, adressiert an Vattenfall mit den besten Wünschen, möglichst bald abzuschalten. Aus ganz Schleswig-Holstein sind Busse angekommen. Die Veranstalter zählten 1500 Fahrräder, mehr als 100 Motorräder, 27 Segelschiffe auf der Elbe und 6000 Demonstranten - die größte Anti-AKW-Demo, die Brunsbüttel je erlebt hat.
Hamburgs kommissarischer Bischof Jürgen Bollmann sagte: "Wir haben einen langen Atem. Wir werden nicht eher ruhen, bis unsere Energieversorgung so umgestellt ist, wie es die kirchlichen Synoden seit 25 Jahren fordern: sauber von Atomtechnologie und das Klima schonend. Brunsbüttel darf nicht wieder ans Netz gehen." Bollmann wies den Vorwurf zurück, Atomkraftgegner würden künstlich Angst schüren. Vielmehr gehe es darum, "die greifbare Angst" an sich selbst und anderen überhaupt wahrzunehmen. Die Menschen in Japan würden derzeit nicht wissen, wie sie sich bei den zahlreichen Nachbeben verhalten sollen, schrieb ihm ein Freund aus Tokio: Vor die Tür gehen, damit ihnen das Dach nicht auf den Kopf falle? Oder doch lieber im Haus bleiben? "Das ist Angst, wie sie nur Menschen wirklich erleben können", sagte Bollmann.
Die Ärztin Angelika Claußen erinnerte an Tschernobyl: "Wir müssen uns aus der Geiselhaft der Atomenergie befreien." Die Hamburger Fotokünstlerin Olympia Sprenger hatte eine selbst gemachte Puppe bei sich, die einen japanischen Schwerverletzten darstellt. "Ich bin schon immer bei AKW-Demos mitgegangen, das ist hier eher eine gemütliche Sache."
Vor 25 Jahren ging es im Garten von Girija Matthes gar nicht gemütlich zu. Die Bergedorferin wuchtete am 30. April 1986 einen Sandkasten samt Sand ins Haus. Der zweite Geburtstag ihrer Tochter Navina musste wegen zu hohen Risikos in die geschlossenen vier Wände verlegt werden, denn: Die atomare Wolke nahm Kurs auf Deutschland. "Und das sind zu präsente Erinnerungen, als dass sie mich heute, 25 Jahre später, loslassen würden", sagt die 50-Jährige. Mit Fahne in der Hand marschiert sie im Zug vom Kernkraftwerk in Richtung Abschlusskundgebung in Geesthacht. Zumal ihr Krümmel gewissermaßen vor die Tür gebaut wurde und besorgniserregend viele Fälle von Leukämie auf der anderen Elbseite des Reaktors beständig heruntergespielt werden würden. "Hinzu kommt die Frage nach dem radioaktiven Abfall, die weiter ungeklärt ist." Schon deshalb engagiere sie sich weiterhin in der Anti-AKW-Bewegung, ebenso wie ihre Begleiterin Monika Heß aus Hamburg. "Auch ich musste nach den Vorfällen in Tschernobyl meine Tochter Anna nur drinnen spielen lassen. Dieses Gefühl der Hilf- und Ratlosigkeit werde ich nie vergessen."
Heute wollen viele diese Ereignisse nicht mehr mit Tatenlosigkeit quittieren. Der Protest erreicht nach einer Durststrecke in den 90er-Jahren wieder die gesellschaftliche Mitte. Die kritische Masse ist zurück - und wehrt sich gegen den Zickzackkurs der Bundesregierung oder setzt sich für das konsequente Weiterentwickeln erneuerbarer Energien ein. So versammelten sich laut Veranstaltern 20 000 Menschen vor dem niedersächsischen AKW Grohnde - die meisten Teilnehmer an einem der zwölf Einzelstandorte.
10 000 Menschen, wie von der Polizei beziffert, oder 17 000 Menschen, wie die Veranstalter sagen. Für Jurij Wazkel, den ukrainischen Liquidator aus Tschernobyl, spielte das keine Rolle. Er wollte, dass möglichst viele seine Botschaft hören. Als einer von 800 000 eingesetzten Männern, die damals nach der Explosion in die Strahlung mussten, hat er sein Urteil gefällt: "Ich bin zu einer Geisel der Atomkraft geworden. Die Menschheit ist zu einer Geisel geworden. Darum kämpfen Sie hier in Deutschland bitte weiter. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg." Es ist sein letzter Satz. Für heute.