SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier über den Höhenflug der Grünen und die Chancen einer Kanzlerkandidatur für Olaf Scholz.
Berlin. Die Bundesregierung schwächelt, doch die SPD schlägt daraus kein Kapital. Im Interview mit dem Hamburger Abendblatt skizziert Frank-Walter Steinmeier, wie er verhindern will, dass die SPD immer mehr zum Juniorpartner der Grünen wird.
Hamburger Abendblatt: Herr Steinmeier, die Grünen erwägen, zur nächsten Bundestagswahl einen Kanzlerkandidaten aufzustellen. Wozu würden Sie ihnen raten?
Frank-Walter Steinmeier: Zu raten habe ich nichts. Aber ich bin sicher: Das machen die Grünen nicht von den Umfragen heute, sondern von denen in zwei Jahren abhängig.
Könnten Sie sich vorstellen, Außenminister unter einem grünen Bundeskanzler zu sein?
Steinmeier :Jetzt lassen Sie doch mal die Kirche im Dorf. Wir werden 2013 keinen grünen Bundeskanzler haben, und das lässt sich auch nicht herbeischreiben. Die Grünen haben sich aus dem Widerstand gegen die Atomkraft heraus gegründet. Das ist ihr Identitätsthema Nummer eins. Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima ist es daher doch wenig überraschend, wenn die Grünen jetzt besonders stark sind. Ich gönne ihnen das auch. Aber ich bin mir über zwei Dinge sicher. Erstens: Die zentralen Themen werden sich bis zur Bundestagswahl noch ein paarmal verändern. Und zweitens: Unsere Verbindung von sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Vernunft wird gebraucht. Und die Bereitschaft zu pragmatischer Politik auch. Für beides steht die SPD.
Baden-Württemberg ist nur ein Betriebsunfall?
Steinmeier: Jedenfalls ist das Ergebnis in Hamburg eindeutig anders! Und beides gehört zur Realität. Ganz ohne Zweifel musste sich die SPD nach der Wahlniederlage 2009 neu aufstellen und manchen Streit und Hader aus der Vergangenheit hinter sich lassen. Jetzt bereiten wir uns auf neue Regierungsverantwortung vor. Da sind wir mittendrin. Und ganz nebenbei gewinnen wir auch wieder Wahlen, wie Hamburg zeigt.
Als Nächstes wählen Bremen und Mecklenburg-Vorpommern. Die norddeutschen SPD-Landesverbände sind alarmiert, weil die Sozialdemokraten von der anhaltenden Schwäche der Bundesregierung nicht profitieren ...
Steinmeier: Die norddeutschen Landesverbände sind überhaupt nicht alarmiert. Aber ich selbst sage Ihnen, wir sind mit der SPD bundesweit noch nicht da, wo ich uns gerne sähe. Das verlangt noch Arbeit. Wahr ist aber auch: Am Tag nach der Bundestagswahl hätte uns niemand zugetraut, dass wir anderthalb Jahre später wieder Wahlen gewinnen. Olaf Scholz und die Hamburger SPD haben vorgemacht, wie es geht und wie man erfolgreich sein kann.
In einem Brief an die SPD-Fraktion haben Sie geschrieben, es gehe "nicht mehr nur darum, das schönste Schlagwort und die nächste Schlagzeile zu prägen". Zielt das auf den Parteivorsitzenden?
Steinmeier: Unsinn. Es ist ein Brief an die Fraktion. Er richtet sich an alle Mitglieder. Und ich sage darin: Die Aufgabe der Opposition ist Kritik an der Regierung, wo sie es verdient. Und das war häufig genug der Fall. Aber Opposition erschöpft sich nicht daran. Ich habe den Ehrgeiz, dass wir mit besseren Ideen und besseren Konzepten antreten. Wie bleibt Deutschland auch bis zum Ende dieses Jahrzehnts noch Arbeitsgesellschaft, in der die Mehrzahl der Menschen sich durch Einkommen aus Arbeit ernährt. Woher kommt die Arbeit von morgen und wie finden wir ausreichend und qualifizierte junge Leute für diese Jobs.
Sie haben junge SPD-Abgeordnete beauftragt, so etwas wie ein Regierungsprogramm für das Jahr 2020 zu formulieren. Haben Sie die Hoffnung aufgegeben, noch in diesem Jahrzehnt wieder an die Macht zu kommen?
Steinmeier: Wir stellen jetzt die Weichen für ein langfristiges Ziel. Glaubwürdig in der Politik ist nur derjenige, der mehr liefert als Schlagworte. Die Menschen erwarten von der Politik, dass sie Antworten bekommen, die nicht nur für eine Legislaturperiode reichen.
Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz ist der einzige Regierungschef der SPD, der mit absoluter Parlamentsmehrheit regiert. Qualifiziert er sich damit für den Kreis der möglichen Kanzlerkandidaten?
Steinmeier: Olaf Scholz ist sogar der einzige Regierungschef in ganz Deutschland mit absoluter Mehrheit. Ich freue mich riesig für ihn. Natürlich steht so jemand in der ersten Reihe einer Partei, aus der dann - wenn die Zeit reif ist - die Kanzlerkandidaten bestimmt werden.
Sie sind in dieser Woche in einer Umfrage zum beliebtesten deutschen Politiker aufgestiegen. Können Sie sich vorstellen, Angela Merkel ein zweites Mal herauszufordern?
Steinmeier: (lacht) Ich ahnte, dass die Frage kommt. Aber wir haben verabredet, dass wir die Frage der Kanzlerkandidatur im Frühjahr 2013 entscheiden.
Hat Sigmar Gabriel als Parteichef das Erstzugriffsrecht?
Steinmeier: Selbstverständlich hat der Parteivorsitzende das Recht des ersten Zugriffs, das ihm auch niemand bestreitet.
Das zentrale Feld der politischen Auseinandersetzung ist die Energiepolitik nach Fukushima. Wird die SPD in den Wettbewerb um die kürzesten Atomlaufzeiten eintreten?
Steinmeier: Wichtig für uns ist, dass die sieben vorläufig abgeschalteten Altmeiler und der Pannenreaktor in Krümmel dauerhaft stillgelegt werden. Die Regierung muss außerdem die Laufzeitverlängerung vom Tisch nehmen und bereit sein, über einen beschleunigten Ausstieg zu reden.
Das bedeutet?
Steinmeier: Ich halte es für möglich, den Ausstieg bis 2020 zu organisieren.
Die Grünen peilen 2017 an ...
Steinmeier: Ein Wettlauf um das frühestmögliche Datum ist nicht meine Sache. Genauso wichtig wie Klimaschutz und eine gesunde Umwelt ist für die Deutschen: Wir sind nicht irgendein Land, sondern ein bedeutender Industriestandort. Der Erhalt von Arbeitsplätzen hängt von einer sicheren Energieversorgung ab. Und: Energie muss für alle Verbraucher auch bezahlbar bleiben. Darum müssen wir die richtige Balance finden.
Worauf wollen Sie hinaus?
Steinmeier: Nehmen wir die Ökosteuer: Vor zehn Jahren haben wir Energie bewusst verteuert, um die Umwelt zu schonen und den Faktor Arbeit zu entlasten. Das Ziel war richtig, aber es hätte auch negative Folgen haben können. Wenn wir für energieintensive Unternehmen zum Beispiel in der Glas- und Stahlindustrie keine Sonderregelungen gemacht hätten, dann wären einige Unternehmen schon nicht mehr hier. Das ist eben Regierungskunst: ökologische Erneuerung und gleichzeitig Deindustrialisierung vermeiden.
Was bedeutet das für den Atomausstieg?
Steinmeier: Wenn wir jetzt acht Kernkraftwerke abschalten, produzieren wir auf einen Schlag ein Drittel weniger Strom aus Kernenergie. Den kann man nicht ohne Weiteres und zu jeder Jahreszeit durch erneuerbare Energien ersetzen. Deutschland hatte immer den Anspruch, seinen Energiebedarf selbst zu decken. Es ist keine Lösung, Atomstrom aus dem Ausland einzuführen. Deshalb müssen wir uns jetzt ehrlich machen: Welcher Energieträger kann welchen Beitrag in welcher Zeit zum Gesamtenergiebedarf liefern.
Was folgt daraus?
Steinmeier: Ein beschleunigter Ausstieg aus der Kernenergie ist das Gebot der Stunde, aber er ist noch keine ausreichende Antwort. Energieeinsparung, effizienter Einsatz von Energie und Ausbau erneuerbarer Energien ist unverzichtbar. Aber wir werden auch in einigen Jahren einen höheren Anteil Gasverstromung haben. Die Renaissance der Kohle sehe ich nicht, aber eine technologische Modernisierung von einzelnen Kohlekraftwerken könnte nötig sein.
Welche Erkenntnisse hat der Atomgipfel im Bundeskanzleramt gebracht?
Steinmeier: Die Regierung hat unverantwortlich gehandelt, als sie die Atomlaufzeiten verlängert hat: Sie hat den gesellschaftlichen Grundkonsens über den Atomausstieg gebrochen und mit ihrer zweifachen Kehrtwende jede Glaubwürdigkeit verloren. Bei alledem hat sie auch noch die parlamentarischen Gremien umgangen. Der Atomgipfel lässt vermuten, dass Union und FDP sich jetzt wieder ohne große parlamentarische Debatte durchmogeln wollen.
Wie kommen Sie darauf?
Steinmeier: Die Regierung bespricht sich mit Kommissionen, Unternehmen und mit Landesregierungen. Das Parlament schiebt sie beiseite. Über die Zukunft der Atomkraft wird am Ende keine Ethikkommission entscheiden können. Dafür sind die demokratischen Institutionen und die gewählten Abgeordneten zuständig. Der einzige Ort, an dem verbindlich über die Zukunft der Energiepolitik entschieden wird, ist und bleibt der Deutsche Bundestag.