Christian Wulff erklärte in seiner Rede, dass auch das Christentum zur Türkei gehört. Er sprach als erster Bundespräsident vor den Abgeordneten.
Ankara. Ein Loblied auf Mustafa Kemal Atatürk stimmt der Bundespräsident bereits an, als er türkischen Boden noch gar nicht betreten hat. Pünktlich zum offiziellen Auftakt seines Staatsbesuches veröffentlichte die Zeitung "Hürriyet" gestern ein Interview mit Christian Wulff. Darin würdigt er die Reformen unter Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei. Am Vormittag, noch vor der Begrüßung mit militärischen Ehren, besucht Wulff in Ankara das Atatürk-Mausoleum. Er legt einen Kranz nieder - und verharrt anschließend schweigend vor dem gewaltigen marmornen Sarkophag. Soldaten geleiten das deutsche Staatsoberhaupt zum Gedenkbuch für Atatürk. "Er war Schöpfer der modernen Türkei und Wegbereiter nach Europa", trägt Wulff in das Buch ein. Er würdigt Atatürks Werk "in Hochachtung".
Lob und Ehrerbietung für Atatürk, den Vorkämpfer des Laizismus und den Gründer der säkularen Türkei, kommen indes ein wenig seltsam daher während dieses Staatsbesuchs. So sehr sich Deutsche und Türken in den vergangenen Jahrzehnten stets hinter Atatürk und dessen Verdiensten versammelt haben, so überholt erscheint heute die beschworene Trennung von Staat und Kirche. Die Religion ist aus ihrer Nische herausgetreten. Zuweilen erscheint sie als das wichtigste Thema zwischen beiden Staaten. Ausgerechnet heute, zur Begrüßung Wulffs, schreitet Hayrünnisa Gül, die Ehefrau des türkischen Staatspräsidenten, die militärische Ehrenformation mit einem Kopftuch ab. Aus laizistischer Sicht begeht die Ehefrau des ersten Mannes im Staate einen Traditionsbruch. Die Kemalisten sind der Ansicht, das Kopftuch habe im öffentlichen Raum nichts verloren. Hayrünnisa Güls Bekenntnis dürfte deshalb in der Türkei Wellen schlagen.
Doch die Religion erfährt nicht nur über das Kopftuch Aufmerksamkeit. Auch der Bundespräsident widmet Islam und Christentum allerlei Platz. Sein Wort vom 3. Oktober, wonach der Islam inzwischen auch zu Deutschland gehöre, ist in der Türkei positiv registriert worden. Und so wie Wulff, etwas simplifizierend, in seiner Bremer Rede sagte, Christentum, Judentum und Islam gehörten zu Deutschland, so konstatierte er gestern in Ankara: "Vielleicht wissen wir zu wenig von den Gemeinsamkeiten der drei monotheistischen Weltreligionen." Wulff also gibt eine Art Nathan den Weisen des 21. Jahrhunderts ab. Er wirbt für Toleranz wie einst Gotthold Ephraim Lessing in der berühmten Ringparabel. Einen "echten" Ring, eine "echte" Religion, gibt es für Christian Wulff nicht. Das ist für manch einstigen Parteifreund starker Tobak. Wenngleich es wohl Wulff amüsieren dürfte, dass konservativ-klerikal argumentierende Landsleute zwar den Islam für seine Rückständigkeit attackieren, aber ebenso fremdeln mit einer Frau an der Spitze von CDU und Regierung. Zumal es sich gar um eine kinderlose Protestantin handelt! Ein solches Denken liegt dem westdeutschen, einstigen CDU-Politiker Wulff fern.
Den Religionen widmet sich Wulff auch, als er zu seiner Rede vor der türkischen Nationalversammlung ansetzt. Nicht einmal jeder zweite orangefarbene Sessel im Parlament zu Ankara ist besetzt. Nur sehr gemächlich erheben sich die Abgeordneten, während der Bundespräsident den Saal betritt - und wieder, als er ihn 22 Minuten später verlässt. Wulff ist der erste Bundespräsident, der hier spricht. Während der Rede klingeln allerlei Mobiltelefone. Wie üblich eilt Wulff so schnell durch sein Manuskript, dass er manch klugen Gedanken unter Wert verkauft. Nur an einer Stelle bleibt Raum für einen Zwischenapplaus, als er der Türkei dankt, von den Nationalsozialisten verfolgte Deutsche aufgenommen zu haben.
Zur Beruhigung im eigenen Land benennt der Bundespräsident in Ankara Probleme etwas prägnanter, als er es am 3. Oktober tat. Über "Verharren in Staatshilfe" und "Machogehabe" klagt er, mit dem Zusatz, dies gebe es nicht nur bei Einwanderern. Von "multikulturellen Illusionen" spricht Wulff, bezieht diese aber, rhetorisch geschickt, auf die Vergangenheit. Er scheut sich nicht, ausgerechnet seinen stark kritisierten Satz vom Islam zu paraphrasieren, indem er heute feststellt: "Das Christentum gehört zweifelsfrei zur Türkei." Wulff lässt aber ebenso unerwähnt, dass der Apostel Paulus auf heute türkischem Boden, in Tarsus, geboren wurde. Die christlichen Wurzeln der heutigen Türkei liegen auf der Hand. Konstantinopel galt als das östliche Rom. Die Türkei war christlich, bevor sie von den Muslimen erobert wurde. Die Christen wurden hier verfolgt und vertrieben.
In Tarsus werde er, kündigt Wulff an, morgen einen ökumenischen Gottesdienst mitfeiern. Die dortige Paulus-Kirche ist ein Museum, soll aber wieder zur Kirche werden. "Wir erwarten", sagt Wulff selbstgewiss, "dass Christen in islamischen Ländern das gleiche Recht haben, ihren Glauben öffentlich zu leben, ihren eigenen theologischen Nachwuchs auszubilden und Kirchen zu bauen." Den Kemalisten gefällt solch ein Satz nicht. Doch auch in Deutschland, in der traditionell kirchenfernen FDP, dürfte Wulffs Akzent auf dem Religiösen nicht auf Beifall stoßen.
Bei all seinen Sätzen zu Christen und Muslimen, zu Kirchen und Moscheen spricht Wulff am Ende seiner Rede von seiner Hoffnung auf eine friedliche Welt im 21. Jahrhundert. "Frieden im Lande und Frieden in der Welt", beendet er seine Rede mit einem Zitat. Erst auf Deutsch, dann auf Türkisch. Das Zitat stammt von - Mustafa Kemal Atatürk.