Der RAF-Experte Wolfgang Kraushaar und ein neuer Zeuge glauben an einen frühzeitigen Verfassungsschutz-Kontakt der früheren Terroristin.
Hamburg/Karlsruhe. War Verena Becker schon vor dem Attentat auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback 1977 Informantin des Verfassungsschutzes? Und wurde deshalb damals kein Verfahren gegen sie wegen des Buback-Mordes eröffnet? Oder ist sie wirklich erst 1981 angeworben worden, als sie - zu zweimal lebenslänglicher Haft wegen versuchten Polizistenmordes verurteilt - tief deprimiert und dem Suizid nahe war?
Während im neuen Becker-Prozess in Stuttgart-Stammheim gerade die ersten Augenzeugen zum Attentat aussagen, ist der Hamburger RAF-Experte Wolfgang Kraushaar in seinem neuen Buch diesen schwerwiegenden Fragen nachgegangen. "Verena Becker und der Verfassungsschutz" (Hamburger Edition, 252 S., 16 Euro) beleuchtet wie mit einer Stablampe das merkwürdige Vorgehen der Verfassungsschützer, die in den aufgeheizten 1970er-Jahren versuchten, Quellen in der RAF und der "Bewegung 2. Juni" anzuzapfen.
Den Verdacht, dass Becker vor Strafverfolgung geschont wurde, äußerte zuerst Michael Buback, der Sohn des Ermordeten. Er konnte sich nicht erklären, warum Becker nicht angeklagt wurde, obwohl sie vier Wochen nach dem Buback-Attentat mit der Mordwaffe gestellt worden war. Seinen Verdacht verwies die Bundesanwaltschaft bisher immer ins Reich der Fantasie: Es gebe keinen Hinweis auf einen Kontakt zum Verfassungsschutz vor 1981, heißt es.
Der Verdacht, schreibt Kraushaar, klinge ja auch ungeheuerlich und eher nach einem Plot von John le Carré oder Frederick Forsyth als nach Bundesrepublik. Aber Kraushaars Recherchen, auch im gut bestückten Archiv des "Hamburger Instituts für Sozialforschung", erhellen die aufschlussreichen Vorgänge in der links-anarchistischen Westberliner Szene der 70er-Jahre. Und in diesen Kreisen war nicht nur die damals 19-jährige Verena Becker sehr aktiv, sondern auch das Landesamt für Verfassungsschutz.
Kraushaar erinnert etwa an den Studenten Ulrich Schmücker, der 1972 zur selben "Zelle" der "Bewegung 2. Juni" gehörte wie Becker. Nach ihrer Verhaftung bekamen beide Besuch von dem Verfassungsschützer Michael Grünhagen, dem erfolgreichsten Anwerber. Schmücker ließ sich auf einen Deal ein, den er mit seinem Leben bezahlte: 1974 wurde er in einem Park an der Krummen Lanke erschossen. Die Vertuschung des Schmücker-Mordes durch den Berliner Verfassungsschutz blieb unbestritten ein Justizskandal.
Bei den Anwerbungen konzentrierte man sich damals auf solche Terroristen, die in ihrer Gruppe oder Zelle ein "Statusproblem" gegenüber den Anführern hatten. Becker passte damals in dieses Schema, so Kraushaar. Erst nach ihrem Jemen-Aufenthalt sei sie in der Hierarchie aufgerückt. Die Stasi jedenfalls ging in einem Aktenvermerk 1978 längst davon aus, dass "die B. seit 1972 von westdeutschen Abwehrorganen ... bearbeitet bzw. unter Kontrolle gehalten wird".
Zwar hat Kraushaar, wie er explizit schreibt, keinen Beweis dafür, dass Becker gedeckt und geschützt worden ist. Aber wo es bis heute so wenige Antworten gibt, hilft es oft, dass mal jemand die richtigen Fragen stellt. Und jetzt scheint Unterstützung auf dem Weg: Im Mordprozess hat sich gerade ein Zeuge gemeldet, dem zufolge Becker schon 1976 für den Verfassungsschutz arbeitete. Der Zeuge sei ein "enger Freund" eines leitenden Insiders beim Verfassungsschutz, hat Ulrich Endes, der Anwalt des Nebenklägers Michael Buback, gestern mitgeteilt.