Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer über sinkende Geburtenraten, den Konservatismus der CDU und die Thesen Sarrazins

Magdeburg. In der DDR hat er als Frauenarzt gearbeitet und ist nach der Wende in die Politik gegangen. Seit 2002 regiert der CDU-Politiker Sachsen-Anhalt. Im Abendblatt-Interview fordert Wolfgang Böhmer eine ernsthafte Debatte über die Thesen des entlassenen Bundesbankvorstands Thilo Sarrazin. Auch Böhmer beklagt, dass die Deutschen immer weniger Kinder bekommen. Die Lösung sieht er in einem anderen gesellschaftlichen Klima - und in der Zuwanderung von Katholiken.

Hamburger Abendblatt:

Herr Böhmer, sind Sie konservativ?

Wolfgang Böhmer:

Das bin ich.

Wie äußert sich das?

Böhmer:

Ich habe eine Wertevorstellung, die nicht mehr von allen geteilt wird. Dazu gehört ein sehr traditionelles Familienbild, dazu gehört auch ein Bekenntnis zu dem, was manche früher Sekundärtugenden genannt haben.

Fallen Ihnen weitere Konservative in der CDU ein?

Böhmer:

Dafür sollten wir den Begriff erst einmal definieren.

Angela Merkel?

Böhmer:

Auf alle Fälle würde ich sie als wertkonservativ bezeichnen. Aber wer eine Regierung führt, muss auch die Probleme der Zeit erkennen und Lösungen für die Zukunft entwerfen.

Als wertkonservativ könnte man auch Cem Özdemir bezeichnen. Was unterscheidet die Kanzlerin vom Parteichef der Grünen?

Böhmer:

Merkel und Özdemir setzen unterschiedliche Schwerpunkte. Aber sie haben wahrscheinlich ein gemeinsames Wertegerüst. Es ist doch gut, dass es Wertkonservative auch in anderen Parteien gibt.

Friedrich Merz sagt, die CDU sei noch nie so beliebig und orientierungslos gewesen wie heute. Teilen Sie diese Beobachtung?

Böhmer:

Nicht in dieser Schärfe. Nicht jede Meinungsäußerung eines CDU-Politikers ist die Meinung der CDU.

Wird die konservative Wurzel der CDU von der Parteiführung genügend gepflegt?

Böhmer:

Wir müssen die Frage, ob sich Konservative in der CDU wiederfinden, immer wieder neu stellen. Parteien müssen Schritt halten mit der gesellschaftlichen Entwicklung, wenn sie erfolgreich bleiben wollen.

Ist es konservativ, die Wehrpflicht auszusetzen?

Böhmer:

Das ist weder konservativ noch sonst irgendwas. Ich finde die Kritik an der Aussetzung der Wehrpflicht recht merkwürdig. Seit mehr als 60 Jahren ist Deutschland nicht mehr direkt in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt und nur von befreundeten Staaten umgeben. Das ist doch sehr erfreulich. Die Wehrpflicht wird also zurzeit nicht gebraucht.

Entspricht es dem christlichen Menschenbild, die Armen besonders zu belasten, wenn gespart werden muss?

Böhmer:

Das ist eine verzerrte Darstellung des Sparpakets. Weit mehr als die Hälfte des Bundeshaushalts wird für soziale Zielsetzungen ausgegeben. Und deutlich weniger als die Hälfte der Einsparsumme kommt aus diesem Etat. Sparen kann der Staat nun mal nur dort, wo er etwas ausgibt.

Sie könnten Gutverdiener stärker an der Haushaltssanierung beteiligen - etwa mit einem höheren Spitzensteuersatz ...

Böhmer:

Das könnte man. Und ein höherer Spitzensteuersatz würde die Akzeptanz des Sparpakets in der Bevölkerung erhöhen. Ich höre aber, dass es dafür in der Koalition in Berlin keine Mehrheiten gibt.

Hat die Union in der Debatte um die Thesen Sarrazins eine Chance vertan?

Böhmer:

Vorverurteilungen sind immer falsch. Über vieles, was Sarrazin schreibt, kann man durchaus ernsthaft diskutieren.

Zum Beispiel?

Böhmer:

Familienbildung kommt immer mehr aus der Mode. Die Deutschen bekommen zu wenige Kinder. Die Geburtenrate ist so weit gesunken, dass wir ohne Zuzug von außen eine langsam absterbende Bevölkerungsgruppe wären. Deutschland ist angewiesen auf Zuwanderung aus Gegenden, in denen es noch zum Lebensverständnis gehört, Kinder zu bekommen. Dabei denke ich vor allem an sehr katholische Regionen.

Wie wollen Sie gegensteuern?

Böhmer:

Die Politik kann Familienbildung unterstützen. Das geht nicht nur mit Geld allein. Das Gefühl, dass Kinder das eigene Leben reicher machen, ist in Deutschland nicht sehr verbreitet. Der Stellenwert der Familie in der Gesellschaft ist dramatisch gesunken. Die Politik muss im öffentlichen Bewusstsein ein Klima dafür schaffen, dass Kinder mehr sind als eine materielle Belastung.

Bei wem ist mehr Überzeugungsarbeit zu leisten - bei den Frauen oder bei den Männern?

Böhmer:

Nach meiner Erfahrung bei den Männern. Der Kinderwunsch von Frauen ist größer. In Sachsen-Anhalt sind im letzten Jahr 63 Prozent aller Kinder unehelich geboren, und immer weniger Väter kommen ihrer Unterhaltspflicht nach. Das ist ein Beleg für fehlendes Verantwortungsgefühl.

Ist Sarrazin konservativ?

Böhmer:

Sarrazin hat ein konservatives Werteverständnis.

Würde er besser in die CDU passen als in die SPD?

Böhmer:

Mit Leuten, die sich gelegentlich als Querdenker profilieren, hat jede Partei ihre Schwierigkeiten. Dafür sind sie eine Bereicherung der Gesellschaft.

In anderen europäischen Ländern haben rechtspopulistische Parteien erheblichen Erfolg. Vorboten für Deutschland?

Böhmer:

Die Gefahr, dass in Deutschland eine rechtspopulistische Partei entsteht, besteht immer - auch wenn derzeit nicht erkennbar ist, wer sie anführen könnte. Wir müssen permanent auf der Hut sein und alles unternehmen, um die Gründung einer Partei rechts der Union zu verhindern.

Muss die Union ihr konservatives Profil schärfen?

Böhmer:

Auch als Volkspartei kann die CDU nicht alles einfangen, was sich rechts von ihr bewegt. Aber sie sollte die Probleme, die die Menschen bewegen, klar ansprechen. Das ist die beste Immunisierung gegen rechtsextreme Gesinnung.

20 Jahre nach der Einheit tut sich die CDU in den östlichen Bundesländern immer noch besonders schwer. Worauf führen Sie das zurück?

Böhmer:

Im Osten ist die Arbeitslosigkeit immer noch viel höher als im Westen. Das ist ein Nährboden für die Linkspartei, die einen ungewöhnlich hohen Stimmenanteil hat. Die CDU wird zulegen, wenn sich wirtschaftlicher Erfolg einstellt und Arbeitsplätze entstehen.

Angela Merkel ist im Osten aufgewachsen. Hilft das nicht?

Böhmer:

Die Tatsache, dass die Kanzlerin im Osten aufgewachsen ist, bringt keine Arbeitsplätze.

Sachsen-Anhalt wählt im März. Spüren Sie Rückenwind aus Berlin?

Böhmer:

Gegenwärtig würde ich eher von Gegenwind sprechen. Die Union schneidet bundesweit in Umfragen im Augenblick schlechter ab - und dafür gibt es Gründe. Ein Fehler war, die Mehrwertsteuer für das Hotelgewerbe zu senken. Diese Entscheidung hat bis heute niemand verstanden.

Also weg damit?

Böhmer:

Ich beobachte die Diskussion, die Steuergeschenke für die Hotellerie rückgängig zu machen, mit großer Sympathie.

Welche Folgen hätte ein Machtverlust in Sachsen-Anhalt oder Baden-Württemberg für die Führungsspitze der CDU?

Böhmer:

Angela Merkel könnte sich darüber sicher nicht freuen. Aber es wäre kein Grund, schon wieder den Bundestag aufzulösen. Im Übrigen: Wenn Landespolitiker der Union ihre Probleme immer bei der Kanzlerin abladen, kann sie einem langsam leidtun. Es gibt auch eine Eigenverantwortung, der man sich stellen muss. Wenn wir in Sachsen-Anhalt bei der Wahl nicht abschneiden sollten wie erwartet, werden wir uns jedenfalls nicht hinstellen und sagen: Frau Merkel ist schuld.