Er geht auf Rockkonzerte, kommuniziert über Facebook und baut Bellevue zur Denkfabrik um
Es ist der Nachmittag nach der Wahl. Die Häppchen auf der Fraktionsebene im Bundestag sind weitgehend weggeputzt. Die Wahlfrauen und Wahlmänner unterhalten sich längst wieder über Fußball und die Chancen der Deutschen gegen Argentinien im Viertelfinale der Weltmeisterschaft. Die Bundesversammlung war kurz und schmerzlos, für Christian Wulff ist alles glatt gelaufen. Im ersten Wahlgang hat er die absolute Mehrheit errungen: 613 Stimmen hat er erhalten, zehn weniger als das schwarz-gelbe Lager aufweist. Noch im Reichstagsgebäude kündigt der jüngste Präsident in der Geschichte des Landes an, die Themen Integration, Familie und Bildung zu seinen Leitmotiven der kommenden fünf Jahre zu machen.
Angela Merkel und Guido Westerwelle sprechen derweil von einem "Akt der Geschlossenheit" und versprechen, nun noch energischer als Reformmotor der Republik agieren zu wollen. In den Regierungsparteien macht sich Erleichterung breit. Hinter vorgehaltener Hand tuscheln einige Koalitionäre, wie blamiert man jetzt dastehen würde, wenn es erst im dritten Wahlgang geklappt hätte. Von einem Klima des Misstrauens, von einer Ohrfeige für die Kanzlerin würden sie wohl sprechen. Aber Gott sei Dank, das müssen sie nun nicht. FDP und Union verständigen sich zugleich auf eine Sprachregelung, wonach sich die Abweichler auf alle Regierungsparteien gleichermaßen verteilt haben sollen. Sie wollen endlich Frieden in der Koalition. Ohnehin wissen sie, dass der Herbst den Zusammenhalt erneut auf die Probe stellen wird. Die dicken Reformbrocken stehen dann an: die Reform der Bundeswehr, die Umsetzung der Sparpläne, die Verlängerung der Atomlaufzeiten, der harte Kampf um die Mehrwertsteuer.
Der politische Sommer wird auffallend ruhig, und Wulff selbst arbeitet akribisch an seiner "Denkfabrik", zu der er Schloss Bellevue machen will. Noch im Juli trifft er sich mit Joachim Gauck und seinem Vorgänger Horst Köhler zu intensiven Gesprächen. Beide wird er in sein Beratergremium berufen. Danach geht er mit seiner Frau Bettina, der mit 36 Jahren jüngsten First Lady aller Zeiten, auf Sommerreise durch die Republik. Man trifft das höchste Paar im Staat auch beim U2-Konzert mitten in der AWD-Arena in Hannover. Wulff, der ein Bürgerpräsident sein will, lässt sich das Ereignis trotz Bedenken seiner Sicherheitsleute nicht entgehen. Später kündigt er an, monatlich eine Videobotschaft ins Netz zu stellen. Sie wird mit seinem Facebook-Profil verlinkt. Wulff will damit auch ein Versprechen halten. "Facebook wird für mich als Bundespräsident eine Rolle spielen. Das halte ich für zwingend erforderlich", hatte er vor der Wahl schließlich angekündigt.
Die Regierungsarbeit verfolgt der neue Präsident schweigend - vorerst. Am 3. Oktober, zum 20. Jahrestag der deutschen Einheit, hält Wulff seine erste große Rede. Sie wird zu einem Plädoyer gegen Parteienschelte. Im Winter einigt sich die Bundesregierung auf die Reform der Mehrwertsteuer und nimmt den Rabatt für Hotelübernachtungen zurück. In den Umfragen stabilisiert sich die Koalition. Wulff und Merkel treffen sich regelmäßig zum Gedankenaustausch. Die von Schwarz-Gelb vorgelegten Gesetze unterzeichnet Wulff ausnahmslos. In seiner ersten Weihnachtsansprache appelliert er an die Deutschen, Reformwillen zu zeigen - und geht selbst mit einem Beispiel voran. Er kündigt an, den Ehrensold zu reformieren. Bislang haben die Staatsoberhäupter ihr volles Gehalt auch als Ruheständler bezogen. Wulff reicht eine kleinere Pension.