Mindereinnahmen von bis zu neun Milliarden Euro pro Jahr beirren die FDP nicht
Berlin. Die Katze ist aus dem Sack. Seit gestern wissen die Deutschen, was in Koalitionskreisen schon länger als Tatsache gehandelt wird: dass dem Land ab 2011 zwischen fünf und neun Milliarden Euro weniger zur Verfügung stehen werden. Jahr für Jahr. Das hat Alfred Boss vom Kieler Institut der Weltwirtschaft im "Handelsblatt" erklärt. Und das dürfte auch die Botschaft sein, wenn der Arbeitskreis Steuerschätzung am 6. Mai seine offizielle Einnahmen-Prognose bis 2014 vorlegt. Denn Boss ist Mitglied dieses Arbeitskreises.
Die schwarz-gelbe Koalition wollte die Entscheidung über den Umfang der geplanten weiteren Steuersenkungen eigentlich von diesem Datum abhängig machen. Gestern fragte man sich in Berlin, warum Boss die wichtigste Zahl des Jahres früher als erwartet ausgeplaudert hat. Wem konnte diese Vorabinformation nützen? Sicher nicht der FDP, die auf ihrem Parteitag am Wochenende gerade beschlossen hat, an ihrem Steuersenkungsmodell im Kern festzuhalten. Dann doch wohl eher der Union, die das FDP-Vorhaben wegen der klammen Haushaltslage nicht für realisierbar hält.
Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller (CDU), ein entschiedener Gegner von Entlastungen, für die am Ende unter anderem die Bundesländer aufkommen müssen, sagte dem Hamburger Abendblatt: "Die offiziellen Zahlen der Steuerschätzung liegen noch nicht vor, doch ich rechne nicht mit einer veränderten Situation. Es wird dann sicherlich kein Manna vom Himmel regnen und die klammen öffentlichen Kassen füllen." In der Wirtschaftskrise gelte es, die richtigen Prioritäten zu setzen. "Für mich hat die Gesundung der öffentlichen Finanzen Priorität. Dazu haben wir uns mit der Schuldenbremse im Grundgesetz verpflichtet. Alles andere ist Politik auf Kosten nachfolgender Generationen. Deshalb sehe ich in der gegenwärtigen Lage keinen Spielraum für Steuersenkungen - weder zeitlich gestreckt noch in Stufen gestaffelt."
Die FDP wollte das gestern nicht akzeptieren. "Die Interpretationen des ,Handelsblattes' zur anstehenden Steuerschätzung überzeugen nicht", sagte der Steuerexperte Hermann Otto Solms, entschiedener Vorkämpfer kräftiger Entlastungen, dem Abendblatt. "Vor einem Jahr haben die Steuerschätzer für 2010 Einnahmen von 510,4 Milliarden Euro vorhergesagt." Die nun bekannt gewordenen neuen Zahlen zeigten: "Trotz der zu Jahresbeginn beschlossenen steuerlichen Entlastung werden die Steuereinnahmen mit den erwarteten 513 bis 515 Milliarden Euro in diesem Jahr um bis zu fünf Milliarden Euro höher sein als ursprünglich geschätzt."
Solms bekräftigte: "Der Spielraum für Entlastungen ist also keineswegs geschrumpft." Allein aufgrund der kalten Progression, die dazu führt, dass Lohnsteigerungen durch Steuermehrbelastungen aufgefressen werden, habe der Staat bis 2014 zwölf Milliarden Euro Mehreinnahmen. Das beweise, dass die FDP mit ihren Steuersenkungsplänen "genau richtig" liege. "Wir konzentrieren uns darauf, die von der kalten Progression besonders hart betroffenen Steuerzahler zu entlasten."
Doch wenn die Bundesregierung in den nächsten Tagen tatsächlich rund acht Milliarden Euro anweisen muss, um dem bankrotten Griechenland das Überleben zu sichern, dann handelt es sich dabei um annähernd jene Summe, die in der Koalition als Preis für eine Linderung der kalten Progression genannt wird. Die Liberalen spielten den Ball an das Finanzministerium und damit die Union zurück. Und forderten Minister Wolfgang Schäuble (CDU) auf, Sparvorschläge zu präsentieren, um die Steuersenkungen trotzdem möglich werden zu lassen. "Der Finanzminister ist sozusagen in der Bringschuld, was Einsparungen betrifft", sagte Wirtschaftsminister Rainer Brüderle der "Rheinischen Post". Die FDP werde alle Vorschläge diskutieren. Dabei könne man auch über die "Abschaffung von steuerlichen Ausnahmetatbeständen" reden, bot er an. Er habe keinen Zweifel, so Brüderle süffisant, "dass sich der Finanzminister koalitionsloyal und vertragstreu" verhalten werde. "Die verabredeten Steuersenkungen kommen."
Das war CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe dann doch zu viel des Guten. Obwohl bis zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 9. Mai ein Burgfrieden mit der FDP verabredet war, rügte er gestern die "unangemessene Tonlage" der Liberalen gegenüber Schäuble. Es sei ein "Eigentor", sich an einem der beliebtesten Bundesminister zu reiben, "von dem die Menschen wissen, dass bei ihm die Lage der öffentlichen Haushalte in guten Händen ist".