Der Richter sagte: “Eine Abmahnung wäre angemessen gewesen.“ SPD-Vize Olaf Scholz fordert im Abendblatt eine Gesetzesänderung.
Hamburg/Freiburg. Die atmosphärische Wende in den Gerichtssälen hatte sich bereits abgezeichnet: Deutschlands Arbeitsrichter setzen bei Bagatelldelikten und fristlosen Kündigungen vermehrt auf Vermittlung statt auf Konfrontation. Nach aufsehenerregenden Urteilen wie dem für eine Berliner Kassiererin, die Pfandbons für 1,30 Euro unterschlagen hatte, geht der Fall des Diebstahls von sechs Maultaschen (3,51 Euro Wert) für eine Altenpflegerin (58) vom Bodensee glimpflich aus.
In der Berufung vor dem Landesarbeitsgericht Freiburg (Aktenzeichen 9 Sa 75/09) einigten sich die Frau und die Konstanzer Spitalstiftung auf einen Vergleich. Sie erhält 25.000 Euro Abfindung plus rückwirkend mehrere Monatslöhne. Dieser Anteil beträgt höchstens 17.500 Euro, sodass sie mit 42.500 Euro Abfindung rechnen kann.
Die Altenpflegerin war fast 17 Jahre in dem Seniorenheim beschäftigt. Sie hatte entgegen den Regeln des Heimes die Maultaschen mitgenommen, die im Müll gelandet wären. Zunächst hatte sie einen Vergleichsvorschlag des Arbeitsgerichts Radolfzell über eine Abfindung von 25.000 Euro abgelehnt.
Die im vergangenen Jahr bekannt gewordenen Fälle von Diebstählen am Arbeitsplatz ohne großen Schaden hatten auch Politiker empört. "Viele Menschen können einfach nicht verstehen, dass beispielsweise Banker oder Manager Millionenabfindungen bekommen und eine Verkäuferin wegen ein paar Euro ihren Job verliert", sagte der stellvertretende SPD-Vorsitzende Olaf Scholz dem Abendblatt. Der Hamburger Bundestagsabgeordnete und ehemalige Arbeitsminister ist selbst Arbeitsrechtler.
Zu Urteilen bei Bagatelldelikten wie dem Diebstahl von Brötchen oder Maultaschen sagte Scholz: "Man kann gesetzlich regeln, dass bei solchen Taten mit geringen Werten nicht sofort eine fristlose oder eine Verdachtskündigung ausgesprochen wird, sondern eine Abmahnung." Das sei etwas anderes als ein Fall, in dem sich ein Mitarbeiter zum Beispiel einen Schlüssel besorge, um dann aus einem anderen Raum etwas zu stehlen.
"Man muss den Gerichten mehr Spielraum lassen", forderte Scholz. "Die Gerichte und auch die Politik reagieren auf eine öffentliche Diskussion. Unser Vorschlag zur Lösung dieser Bagatelldelikte liegt im Bundestag, und wenn er nicht in dieser Legislaturperiode eine Mehrheit findet, dann eben ab 2013."
Die SPD hat eine Initiative im Bundestag gestartet, die auch die Gewerkschaft Ver.di unterstützt. Ver.di will das Kündigungsschutzgesetz abmildern. So soll eine Kündigung sozial ungerechtfertigt sein, wenn der vom Arbeitgeber geltend gemachte Schaden "geringwertig ist und der Arbeitnehmer nicht zuvor wegen einer gleichartigen Pflichtverletzung abgemahnt worden ist." Was "geringwertig" sei, müsse die Rechtsprechung bestimmen. Doch die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichtes, Ingrid Schmidt, hat zuletzt beklagt, dass Arbeitnehmer keinen "Anstand" hätten, die ihrem Arbeitgeber etwas stehlen: "Es gibt keine Bagatellen."
In der zweiten Instanz des Maultaschen-Falls sagte Richter Christoph Tillmanns, es sei "unstrittig", dass es sich um einen Diebstahl gehandelt habe. Dies allein rechtfertige aber keine fristlose Kündigung: "Dem Arbeitgeber ist durch das Fehlverhalten der betroffenen Altenpflegerin kein wirtschaftlicher Schaden entstanden." Damit rückte der Richter vom Spruch der ersten Instanz ab. "Eine Abmahnung wäre daher angemessen gewesen, nicht aber die fristlose Kündigung." Das gelte vor allem, da die Mitarbeiterin nicht mit ähnlichen Vergehen in der Vergangenheit aufgefallen sei.