Berlin. Die FDP hat ihre Kritik am deutschen Sozialsystem erneuert. Der Wohlfahrtsstaat habe Eigenverantwortung entbehrlich gemacht, Aufstiegswillen gebremst und Mitmenschlichkeit durch anonyme Rechtsansprüche ersetzt, schrieb FDP-Generalsekretär Christian Lindner in einem Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung".
"In einem der am besten finanzierten Wohlfahrtssysteme sind viele Menschen dauerhaft von Arbeit und Bildung ausgesperrt. Obwohl soziale Zwecke bald ein Drittel der Wirtschaftsleistung beanspruchen, werden Sozialhilfekarrieren erblich", kritisierte Lindner weiter. Die Sozialpolitik müsse zu Beschäftigung aktivieren. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte den FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle am Aschermittwoch im mecklenburg-vorpommerischen Demmin erstmals für seine Äußerungen in der Sozialstaats-Debatte öffentlich kritisiert und klargemacht, "dass das, was Guido Westerwelle gesagt hat, nicht meine Worte sind". Westerwelle hatte in der Debatte über angemessene Hartz-IV-Bezüge mit dem Satz provoziert: "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein."
Lindners Beitrag kann als Signal dafür interpretiert werden, dass die Liberalen die von Westerwelle ausgelöste Debatte versachlichen wollen. Die Freidemokraten setzen dabei offenbar auf baldige Absprache mit der Union über neue Hartz-IV-Regeln. Die von Westerwelle verlangte Generaldebatte des Bundestags über die soziale Gerechtigkeit wird wahrscheinlich - wie von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) angeregt - erst Mitte März im Rahmen der Haushaltsberatungen stattfinden, hieß es gestern aus Koalitionskreisen.
Eine zunächst für kommende Woche erwogene Aktuelle Stunde des Parlaments wird inzwischen bei den Koalitionsfraktionen als untauglich für die von Westerwelle gewünschte ausführliche Aussprache angesehen. Wie die Diskussion in der Koalition jetzt kanalisiert werden soll, wird der Koalitionsausschuss am Dienstag beraten. Die drei Parteichefs von CDU, FDP und CSU kommen dann am Mittwoch zu ihrem nächsten regulären Treffen zusammen.
In der FDP-Führung wird der Verlauf der Aschermittwoch- Kundgebungen unterdessen als Erfolg gesehen. Westerwelle habe wegen des Stils der Debatte Kritik einstecken müssen, in der Sache habe er aber ins Schwarze getroffen. "Das Thema bleibt vorne auf der Rampe", hieß es dazu. Aufmerksam registriert wurde bei den Liberalen zudem, dass sich Merkel zwar von Westerwelles Tonlage bei der Kritik am derzeitigen Sozialstaat distanziert, aber gleichzeitig selbst von Korrekturbedarf gesprochen hatte.
Für Aufsehen hatte gestern zunächst die Forderung des FDP-Bundestagsabgeordneten Martin Lindner gesorgt, der in der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung" eine Kürzung der Hartz-Regelsätze zur Diskussion gestellt hatte. Man wolle "Aufstockern ermöglichen, mehr hinzuzuverdienen. Dabei wird auch darüber zu sprechen sein, ob man nicht im Gegenzug die Regelsätze absenken muss, damit Vollbeschäftigte besser dastehen als Teilzeitjobber", wurde Lindner von der Zeitung zitiert. "Anregungen dieser Art entsprechen nicht der Fraktionsmeinung", erklärte darauf der FDP-Vizefraktionschef Heinrich Kolb. Eine Absenkung der Sätze werde unter den zuständigen Fachpolitikern in der Fraktion gar nicht diskutiert.
Hamburgs Erster Bürgermeister Ole von Beust (CDU) sagte unterdessen in einem Interview mit dem Fernsehsender Hamburg 1, Guido Westerwelles Kritik am Sozialstaat sei "vor allem zu unpassender Zeit" erfolgt.