Die Empörungsmaschinerie läuft heiß und dreht sich immer schneller. Heute ist es sechs Tage her, dass FDP-Chef Guido Westerwelle auf 66 Zeilen in der Tageszeitung "Welt" auf Seite 6 einen kleinen Aufsatz unter dem Titel "Vergesst die Mitte nicht" verfasst hatte. Was für ein Skandal! Die Linke ruft "Demagogie" und erklärt Westerwelle im gleichen Atemzug zum "Chef der Partei der Gierigen und leistungslosen Absahner". Ralf Stegner (SPD) fühlt sich, es musste kommen, an "Jörg Haider" erinnert. Auch die CDU, einstmals mit dem Leipziger Parteitag als Reformpartei gestartet, ist schwer empört. Ex-Generalsekretär Heiner Geißler nennt Westerwelle einen Esel, sein Nachfolger Hermann Gröhe ruft den Koalitionspartner zur Mäßigung auf. Und die CSU in Person der bayerischen Sozialministerin Christine Haderthauer wirft dem Vizekanzler (übrigens wortgleich mit SPD-Amtskollegin Manuela Schwesig) vor, er spalte das Land, "indem er eine Schieflage herbeiredet, die es nicht gibt". SPD-Chef Sigmar Gabriel setzt allem die Krone auf, nennt den FDP-Politiker einen "sozialpolitischen Brandstifter".
Geht's auch eine Nummer kleiner? Sicherlich ist Kritik berechtigt; dass ausgerechnet die Partei der Steuergeschenke für Hoteliers und Steuerberater in der Hartz-IV-Debatte "sozialistische Züge" wahrnimmt, klingt krude. Zudem wirkt Westerwelles Gastkommentar wie das Ablenkungsmanöver einer FDP, die sich beim Wahlvolk im freien Fall befindet. Und doch: Abgesehen von seinem historisch schiefen Bild der "spätrömischen Dekadenz" hat Westerwelle in vielen Punkten recht. Natürlich wirkt die Kritik manchmal schrill und überspitzt, aber Westerwelle hat kein "Wort zum Sonntag" gedichtet, sondern einen Kommentar geschrieben. Und in seiner Wortwahl bleibt er weit hinter der Kohorte der Kritiker zurück, die sich moralisch überlegen wie politisch korrekt empören.
Damit erinnert die Debatte an die Empörung über das Interview mit Thilo Sarrazin. In einem klugen Gespräch mit "Lettre International" sprach der SPD-Politiker einige Torheiten ("Kopftuchmädchen") und viele Wahrheiten über eine gescheiterte Integration aus - und geriet im Anschluss ins Kreuzfeuer der Kritik der Korrekten. Längst stellt sich nicht mehr die Frage, welchen Diskurs wir wollen, sondern ob wir überhaupt einen wollen. Der Sozialstaatsdebatte droht das gleiche Schicksal wie der Integrationsdebatte - unangenehme Wahrheiten und Entwicklungen, die über den nächsten Wahlsonntag reichen, werden schöngemalt, kleingeredet oder gleich totgeschwiegen.
Dabei sind die Fakten eher banal. Gleichheit ist nicht per se gerecht. Wer sich heute als großer Verteiler von Sozialleistungen feiern lässt, handelt grob unsozial - und zwar auf Kosten zukünftiger Generationen. Die Schulden von heute sind die Ketten von morgen und die Katastrophen von übermorgen. Das gilt nicht nur für die Staatsfinanzen, sondern auch die Leistungsempfänger. Jeder Sozialarbeiter bestätigt sogenannte "Sozialkarrieren" - in Familien, in denen keiner mehr einem geregelten Erwerb nachgeht, bekommen auch Kinder keine Aufstiegsperspektive. Hier helfen nicht höhere Transferzahlungen, sondern Investitionen in Ganztagsschulen, Sprachförderung, Jobs und Bildung. Deshalb übrigens setzte die rot-grüne Regierung einst mit den Hartz-Reformen auf Fordern und Fördern - und hatte recht damit. Dass Westerwelle vor "anstrengungslosem Wohlstand" warnt, ist nicht skandalös, sondern selbstverständlich. Der Volksmund sagt: "Ohne Fleiß kein Preis".
Auch Westerwelles Hinweis auf die Lastenverteilung im Sozialstaat zwischen Empfängern und Zahlern ist keine bösartige "Spaltung der Gesellschaft", sondern die Zukunftsfrage. Von 1992 bis 2007 sank die deutsche Erwerbstätigenquote um drei Prozentpunkte auf 40,7 Prozent, während die Quote der Sozialleistungsempfänger um 6,5 Prozentpunkte auf 37,8 Prozent anstieg. Wer darüber nicht sprechen will, legt die Axt an den Sozialstaat. Und auch ein Blick nach Schweden, für viele immer noch ein Sozialparadies, kann die Augen öffnen: Dort liegen die Unterstützungssätze für Alleinstehende unter den deutschen.
Bei aller Lust am Streit und an der Profilierung - es wird Zeit für eine Sozialstaatsdebatte ohne Schaum vor dem Mund, aber auch ohne pseudomoralische Empörung. Es wird spannend, ob Angela Merkel, die einmal Reformkanzlerin sein wollte, den Mut zu dieser Debatte hat. Die Chancen stehen schlecht - kurz nach Westerwelles Gastkommentar ließ sie schon einmal ausrichten, das sei nicht "der Duktus der Kanzlerin".
Matthias Iken ist stellvertretender Chefredakteur des Hamburger Abendblatts.