Steigt oder sinkt nun der Hartz-IV-Regelsatz? Wer bietet Betroffenen Beratung an? Das Abendblatt beantwortet die entscheidenden Fragen.
Hamburg. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Kindersätzen bei Hartz IV hat praktische Folgen für Politik und Betroffene. Das Abendblatt hat die wichtigsten zusammengestellt.
Regelsatz könnte sogar sinken
Das Bundesverfassungsgericht hat nicht entschieden, ob 359 Euro als monatlicher Satz für Erwachsene ausreichend sind. "Ob die Hartz-IV-Sätze jetzt steigen, lässt sich nicht sagen", sagte Unionsfraktionschef Volker Kauder deshalb. "Es kann sogar zu Reduzierungen kommen." Diese Überlegung war auch aus der FDP zu hören. Denn das sogenannte Lohnabstandsgebot sorgt dafür, dass zwischen dem, der für geringes Entgelt arbeitet, und dem, der nur Transferleistungen bezieht, ein Einkommensunterschied sein muss.
Kindersätze müssen neu berechnet werden
Das "Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums" gilt für Erwachsene und Kinder. Für Kinder können aber nicht einfach 60 (unter sechs Jahre), 70 (unter 14 Jahre) und 80 Prozent (ab 15 Jahre) vom Erwachsenensatz von 359 Euro pro Monat angesetzt werden, urteilte das Bundesverfassungsgericht. Das seien "Schätzungen ins Blaue hinein". Es wurden auch formale Fehler bei der Berechnung gemacht. Aus der Grundlage (Einkommens- und Verbraucherstichprobe) wurden ohne Begründung Ausgaben herausgenommen, die die Bedürftigen mutmaßlich nicht haben: für Pelze, Maßanzüge, Sportboote und Segelflugzeuge. Das Bundesverfassungsgericht kritisierte auch, dass Geld für Schulbücher, Hefte und Taschenrechner nicht berücksichtigt werden. Ohne diese Mittel drohe hilfsbedürftigen Kindern "der Ausschluss von Lebenschancen".
Haushaltslöcher drohen
Müsste für die Betreuung von Langzeitarbeitslosen sowie Sozialhilfeempfängern und ihren Kindern mehr Geld ausgegeben werden, stiege der Etat des Arbeits- und Sozialministeriums von 146,8 Milliarden Euro weiter an. Schon jetzt umfasst er fast die Hälfte aller Staatsausgaben. CSU-Landesgruppenchef Hans-Peter Friedrich sagte: "Bei Kindern und Jugendlichen werden wir drauflegen müssen." Kostenschätzungen von zehn Milliarden Euro seien aber "unseriös". Diese Zahl hatte die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Renate Künast, genannt. In diesem Jahr werden für die Grundsicherung Arbeitsuchender 38,7 Milliarden Euro ausgegeben, davon 24,3 Milliarden Euro für das Arbeitslosengeld II. Wegen der Wirtschaftskrise und der Kurzarbeit ist die Rücklage der Bundesagentur für Arbeit auf etwa 1,8 Milliarden Euro geschrumpft.
Härtefälle können klagen
Die Verfassungsrichter haben im Urteil angedeutet, dass schon vor der in diesem Jahr reformierungsbedürftigen Berechnung manche Hartz-IV-Bezieher einen "besonderen Bedarf" anmelden können. Doch nur bei "Härtefällen" führe das zu mehr Geld, betonte die Bundesagentur für Arbeit.
In aller Regel habe das Karlsruher Urteil keine Auswirkungen auf die laufenden Auszahlungen des Arbeitslosengeldes II. Ein Härtefall könnten Fahrtkosten sein, die bei getrennt lebenden Eltern und ihren Kindern entstehen, wenn sie sich besuchen. Kosten für Anschaffungen oder Reparaturen sind jedoch anderweitig geregelt.
Anwälte beraten kostenlos
Der Berliner Anwaltsverein bietet nach dem Urteil eine kostenlose "Erste Hilfe" für Betroffene an. Empfänger von Arbeitslosengeld II könnten am Freitag Rat bei einer Sprechstunde bekommen, teilte der Vorsitzende des Vereins, Ulrich Schellenberg, mit. Die Jobcenter in ganz Deutschland rechnen in den kommenden Tagen mit vielen Anfragen.
Proteste angekündigt
Arbeitsloseninitiativen feierten das Hartz-IV-Urteil als Erfolg. In Hamburg, Berlin, Leipzig und Frankfurt/Main gab es öffentliche Aktionen. Sie standen unter dem Motto "500 Euro jetzt!" Die Initiativen waren außerdem dazu aufgerufen worden, Eingänge von Arbeitsagenturen abzuriegeln, Hartz-IV-Empfänger zu ihren Sachbearbeitern zu begleiten und Forderungen wie "Weg mit Sanktionen!" oder "Schließt die Bundesagentur!" an Fenster und Türen zu schreiben. Ein Sprecher der IG contra Sozialabbau in Aschersleben (Sachsen-Anhalt) sagte: "Einige haben total verdattert auf das Urteil reagiert. Das heißt ja: Hartz ist gekippt." Das Erwerbslosen-Forum wertete das Urteil als "schallende Ohrfeige" für die Regierung. "Es liegt jetzt allerdings an uns Erwerbslosen und sozialen Bewegungen, dass wir Druck machen, damit die Regierung nicht wieder Experten einsetzt, die unsere Lebensrealität nicht kennen."